Anti-Gel
Schon wieder sind zwei Wochen seit der Ladung und Sendung unserer Hilfsgüter mit dem Lkw nach Rumänien vergangen. Neben Kinderkleidung und Schuhen, Drogeriewaren und Krankenhausbedarf, Schulmaterial und Spielzeugen, Fahrrädern und einzelnen Möbeln, konnten wir auch Installationsmaterialien für eine Heizung und ein Badezimmer verladen. Die Nachricht, dass der Lkw gut angekommen und alles, wie geplant, abgeliefert wurde, lässt uns zuversichtlich nach vorn blicken. Lebensmittel vom Erntedankfest aus umliegenden Gemeinden und noch einige dazu gekaufte, ein großer Tisch, Küchengeräte, Fahrräder, Süßigkeiten und manches andere füllen nun auch den Laderaum des Transporters und der Zeiger der Waage mahnt die Lastgrenze an.
Doch jetzt, am 15. Oktober, liegen alle Vorbereitungen hinter uns und wir bewegen uns zu viert vorwärts in Richtung Osten. Die Fahrt durch Österreich und Ungarn erfordert von den Scheibenwischern die volle Leistung. Dazu kosten uns Baustellen und Berufsverkehr auf dem Ring um Budapest eine weitere Stunde. Die gute Nachricht ist, dass die Autobahn bis vor Temeswar, unserer ersten Station, fertig ausgebaut und befahrbar ist. Das spart eine mehrstündige Fahrt durch die Ortschaften. Die letzten Kurven vor der Ankunft am Pfarrhaus werden durch wildes Parken immer größerer Autos jedes Mal enger. Seit einer ganzen Weile ist es schon dunkel, zumal die Uhren an der Grenze noch um eine Stunde vorgestellt werden. Doch das verhindert keinesfalls die überaus herzliche Begrüßung bei Pfarrer Kovacs und seiner Frau.
Wir berichten hin und her und erfahren, dass beide, als Pastoren tätig, jetzt noch eine zweite Arbeit angenommen haben. Zsombor übernahm einen Job in einem Registraturbüro und Ibolya unterrichtet in einer Schule die ungarische Sprache als Hilfslehrerin. Ihre beiden größeren Kinder studieren in Klausenburg. Um das, trotz kleiner Jobs der Kinder und Leistungsstipendien, finanzieren zu können, sind die Eltern auf ein zusätzliches Einkommen angewiesen. Bereits am nächsten Tag wollen wir Temeswar wieder in Richtung Hunedoara verlassen, was uns nicht an einem kurzen Stadtrundgang hindert. Die Bauarbeiten schreiten voran und statt auf Bäume und Rasen setzt man jetzt auf große gepflasterte Flächen, europäisch soll die Stadt werden, meinen die Verantwortlichen.
Um die Mittagszeit rollt das Auto und drei Stunden Fahrt liegen vor uns. Ausgebaute Straßen und Stadtumfahrungen ermöglichen eine stressfreie Reise. Wir wollen uns dieses Mal ein wenig mehr Zeit für die Besuche in Hunedoara nehmen. Aber nicht nur wir freuen uns darauf. Alexandru, der seit zwei Jahren mit fünf seiner sieben Kinder in England arbeitet, kommt extra nach Hause, weil wir kommen. Er wird uns eine Woche in Rumänien begleiten. Bei Familie Varga erwartet auch er uns schon.
Vier der acht Kinder sind mit ihren Eltern dort in der ärmlichen Betonbude noch zu Hause. Alexandru hilft beim Aus- und Umladen. Lebensmittel, Süßigkeiten, Kleidung, Schuhe, Küchengeräte und anderes finden dankbare Abnehmer. Während draußen die Bälle zum Einsatz kommen, unterhalten wir uns im Haus mit den Eltern. Immer wieder fällt die Ordnung und Sauberkeit auf, die nicht nur für uns hergestellt wird. Peter, der Vater, geht weiter seiner Beschäftigung als Lagerarbeiter im Nachtdienst für umgerechnet 80 Euro nach. Bei gestiegenem Minimallohn von 180 Euro, der ein Überleben nur schwer ermöglicht, kann man erahnen, wie die Lebensumstände dieser Familie sind. Doch wenn die Kinder in der Schule sitzen, wo sie wirklich gute bis sehr gute Leistungen bringen, soll niemand diese Umstände am Äußeren feststellen. Darauf legt fast jeder Mensch Wert, nicht nur in Rumänien. Die Waschmaschine, die seit einem Jahr arbeitet, erleichtert natürlich vieles. Die Mutter hilft in der Stadt in einer der Kirche angeschlossenen Sozialküche und bekommt mit ihren Kindern dafür täglich eine Mahlzeit. Auch wenn uns der Gedanke daran gut tut, will wohl niemand tauschen. Das Gelände vor ihnen hat sich verändert und private Käufer gefunden. Zäune sind gezogen, was das für die Familie bedeutet, kann noch niemand sagen. Es wird nach unserem Ermessen nur zwei Möglichkeiten geben – das Grundstück kaufen oder verschwinden. An die zweite Variante will niemand denken. Die neu entstandenen Häuser auf den einzelnen Parzellen lassen unseren Glauben an deren Langlebigkeit jedenfalls nicht aufkommen. Es ist wie im Leben, auf wackeligem Fundament garantieren die besten Baustoffe keine sichere Zukunft und Bleibe.
Bei Alexandru hilft der kleiner gewordene Rest der Familie wieder beim Aus- und Umladen. Einige der Kartons und Taschen füllen bald Alexandrus Dacia und wir besuchen die junge Familie Bogdan am Ende des Dorfes. Erst seit zwei Jahren kennen wir uns, aber ihre Geschichte bewegt uns und zieht uns förmlich den Berg hinauf. Cristi war als Dachdecker und Bauarbeiter tätig und wie er selbst sagt, ein „Haudegen und Raufbold“, bis ihm der Lungenkrebs ein baldiges Ableben prophezeite. Seine Frau verbrachte drei Wochen im Krankenhaus auf einem Bündel Kleidung am Boden schlafend und betend neben seinem Krankenbett, während die kleine Tochter bei der Oma zu Hause war. Jeden Tag wollten sie die Schwestern und Ärzte nach Hause schicken, aber sie gab nicht auf, weder ihren Mann noch ihren Glauben. Dann trat ein Heilungsprozess ein, über den die Ärzte sprachlos wurden. Vor uns steht heute ein Mann mit seiner Familie, die einfach glücklich sind, auch wenn sie sich bisher noch kein Bügeleisen und keine Bettdecke leisten konnten. Aber dafür sind wir zuständig und helfen gern mit solchen und anderen Dingen. Noch einige Male bedanken sie sich auch noch später für alle Liebe und Hilfe, die sie durch uns und die vielen Helferinnen und Helfer in unserer Umgebung erhalten haben und lassen alle herzlich grüßen.
Auf dem Heimweg zu Alexandru treffen wir Adriana. Sie hat uns in den ersten Jahren immer mit dem Dolmetschen geholfen. Einen kleinen Kaffee sollen wir bei ihr trinken und wir kommen gern mit rein. Als sie den Kühlschrank dazu öffnet und ihr Mann dabei schmunzelt, ist alles klar. Wir kommen nicht um das Drei-Gang-Menü herum, doch es tut auch gut. Ihr Sohn studiert inzwischen. Als wir die Familie kennengelernt haben, ging er noch in den Kindergarten. Heute müssen wir der Familie nicht mehr helfen, aber uns verbindet eine feste Freundschaft und es gibt immer viel zu erzählen. Nicht zuletzt beglückwünschen wir Andrei, weil er seit einiger Zeit mit dem jahrzehntelangem Rauchen aufhören konnte, was ihm nun sichtlich gut tut.
Leider kommen wir schon gut gesättigt bei Alexandru zu Hause an, wo seine Frau ebenfalls alles vorbereitet hat. Es ist schon lange wieder dunkel und doch leuchtet im Schein der Straßenlampe das neue Dach des kleinen Hauses, das wir schon bei der Ankunft bemerkten. Eine Kleinigkeit essen wir doch noch und sie erzählen vom Dachbau im Sommer. Alexandru war mit etwas Erspartem aus England für drei Wochen nach Hause gekommen. Ein Frühjahrssturm hatte das klapprige Wellasbestdach mit den Blechflicken und den löchrigen Brettergiebel unreparabel geschädigt. Es stellte sich dann raus, dass sämtliche Dachbalken verfault waren, so dass der Aufwand größer als geplant war und das komplette Dach erneuert werden musste. Wer die Familie kennt, weiß was das in jeder Hinsicht bedeutet. Liliana, Alexandrus Frau, war in den vergangenen Wochen fast ausschließlich mit ihrem an Demenz und anderen Krankheiten leidenden Vater beschäftigt. Sie ist am Ende ihrer Kraft. Wir denken an ärztliche Versorgung, soziale Betreuung und Pflegedienste in Deutschland. In dieser Hinsicht liegen nicht nur 1500 Kilometer zwischen den Ländern, sondern Welten.
Die noch zu Hause wohnende Tochter wird in Kürze nach Korsika aufbrechen, weil sie dort einen Job gefunden hat. Sie hat die Hoffnung aufgegeben, in ihrem Umfeld eine Arbeit zu finden, von der sie einmal leben kann. Als Hotelangestellte dachte ihr Chef, auch über sie verfügen zu können, worauf sie den Platz nach einen Jahr dort wieder verlassen musste, bevor Schlimmeres passiert. Trotz Abitur findet sich in der Stadt keine Arbeit, die eine einigermaßen vernünftige Existenz verspricht. „Armutsflüchtlinge“ heißen solche Leute in Deutschland, die sich trotz guter Ausbildung jeden Tag dem Kampf um eine Mahlzeit oder eine einigermaßen gesicherte Existenz stellen müssen. Schon beim ersten Besuch in dieser Familie vor siebzehn Jahren fiel uns auf, dass die Eltern alles für ihre Kinder geben. Das hat sich bis heute nicht geändert, selbst wenn sie als „Armutsflüchtlinge“ unterwegs sein müssen.
Am nächsten Morgen verabschiedet sich Alexandru mit uns von seiner Frau und gemeinsam geht es in Richtung Balanu. Unterwegs erzählt er von seiner Tätigkeit als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Drei Stunden braucht er täglich zusätzlich, um an den Arbeitsplatz und zurück in sein Zimmer zu gelangen. Viel Geld bleibt nicht übrig, aber doch kann er die Daheimgebliebenen etwas unterstützen.
Nach einer Stunde steigen wir in Balanu, dem kleinen Retezatgebirgsort, aus. Die sonntägliche Stille ist vorüber und auch unsere Erstreisende wird so herzlich begrüßt wie wir alle. Das Essen köchelt bereits. Im Keller stapeln sich die Kartons der Lkw-Lieferung. Da in den nächsten Tagen einiges geplant ist, sortieren wir die Kartons und freuen uns, alles unversehrt wieder zu finden. Essen muss sein, doch gleich im Anschluss sehen wir uns im ausgebauten Dachgeschoss um. Wo vor einem Jahr nur Baustelle war sind ein Flur und sechs Zimmer entstanden. Der Winter steht vor der Tür und die Zimmer sollen an die Heizung angeschlossen und ein Bad eingebaut werden. Hierzu haben sich am Samstag in Deutschland weitere vier Monteure in ein Auto gesetzt, um genau das zu erledigen. Am morgigen Montag erwarten wir sie sehnlich. Cristinas Sohn Daniel und seine Frau Laura, deren Hochzeit wir im April mitfeiern konnten, haben ihr Zimmer hier oben bezogen. Weiter entstehen noch eine Küche, das Bad und Gästezimmer. Die Zimmer sind soweit vorbereitet, dass die geplanten Arbeiten problemlos starten können.
Die Arbeitswoche beginnt und wir sortieren die vor einem Jahr vorbereiteten Elektroleitungen, die zwischenzeitlich außerplanmäßig Verwendung fanden. Zimmer für Zimmer wird fertig. Am späten Nachmittag rollt das Auto mit den Monteuren vor. Zwei von ihnen sind zum ersten Mal dabei. Die anderen beiden haben die bestehende Heizung mit aufgebaut und kennen die Situation. Trotzdem sind sie erstaunt, wie das Haus heute aussieht, denn beim letzten Besuch war das ganze Dachgeschoss nur Lager.
Wir helfen beim Sortieren und Vorbereiten und am nächsten Morgen erfolgt die Einteilung der einzelnen Brigaden, die dann im Wettbewerb untereinander die Heizkörper und Badelemente montieren, Rohre verlegen und diese verlöten. Zwischendurch bekommt Cristinas Schwester Gabi eine neue Nähmaschine. Zur Hochzeit im April musste sie die Kleider der Familie ändern und kam zu spät zur Trauung, weil bei ihrem eigenen Kleid die alte Maschine ganz versagt hat und sie das mit der Hand nähen musste. Nur einige Hinweise sind nötig, denn die Schneiderei beherrscht sie in dem nötigen Umfang. Ihre Augen leuchten und sie, die immer zurückgezogen und im Hintergrund agiert und hilft, hat kein Einkommen, außer den zehn Euro Kindergeld für die Tochter. Viele Male bedankt sie sich und wir geben diesen Dank weiter an die Absenderin der Maschine.
Während des Mittagessens planen wir zusammen mit Cristina und ihrem Mann Angelut die nächsten Tage. Ein Tag mit den Kindern und ein Essen für ungefähr achtzig von ihnen müssen vorbereitet werden. Als wir überlegen, wann wir das Wasser von der Heizung ablassen können um die neue Anlage anzuschließen, fällt Cristina fast in eine Schockstarre. Auf Nachfrage erfahren wir, dass sie doch „Anti-Gel“ aufgefüllt haben. Wir erkundigen uns und erfahren, das es eine Art Frostschutzmittel für die Heizung ist, das ein Einfrieren verhindert, wenn es mal über Nacht zu kalt wird oder das Feuer im Kessel nicht gehalten werden kann. Da zehn Liter davon etwa 40 Euro kosten und wir fast vierzig Liter zusätzlich benötigen, um die Anlage komplett aufzufüllen, verstehen wir ihre Reaktion. Dieses Anti-Gel wird uns noch einige Tage beschäftigen. Noch am Dienstag fahren wir in die Kleinstadt Hateg, um für das geplante Essen einzukaufen. Trotz Senkung der Mehrwertsteuer für Lebensmittel von 24 auf 9 Prozent sind die Preise nach wie vor annähernd so hoch wie bei uns. Das, im Verhältnis zum Einkommen von 180 Euro pro Monat gerechnet, wer denn ein solches hat, erklärt einem die sparsam gefüllten Körbe der Einkaufenden bei Billa und Lidl.
Wir sind es schon gewöhnt, dass wir vor dem Geschäft von Kindern oder Erwachsenen angesprochen werden. Als wir wortlos an den „bettelnden“ Kindern vorüber gehen, rufen sie uns keine Flüche sondern gute Wünsche für unsere Gesundheit hinterher. Das bewegt uns zurück zu kommen und sie zu bitten, auf uns zu warten. Sie haben Hunger und wünschen sich ein Brot und vielleicht etwas Wurst. Im Geschäft füllen wir einen großen Beutel mit Brot, Wurst und mit dem was Kinder mögen und sie sättigt. Wir spüren, dass das Blut in uns doch noch nicht erkaltet ist, wenn uns jemand bittet. Aber es muss mit Verstand geholfen werden, das haben wir gelernt. Gute Wünsche geben sie uns mit, selbst wenn wir uns von ihnen abwenden, das war nicht normal. Vielleicht haben sie auch so eine Art „Anti-Gel“ im Blut, das davor schützt bei sozialer Kälte selber „einzufrieren“. Der Vergleich drängt sich uns auf, als wir nach Anti-Gel für unsere Heizung suchend umherirren, ohne Erfolg. Anti-Gel ist schwer zu finden, diese Erfahrung nehmen wir mit. Wahrscheinlich gilt das aber nicht nur für Hateg in Rumänien.
Die Diskussionen vor unserer Abreise hierher um Menschen, die aus den verschiedensten Ländern und Gründen in Deutschland ankommen, hat uns zu erkennen gegeben, wir kalt wir sein können. Wir stehen in der Gefahr, selber nicht mehr zu differenzieren, unsere Kultur, Meinungen und Werte als allgemein gültig und verbindlich zu erklären. Wir werden angesichts der Nöte anderer kalt und meinen, dass es deren Probleme oder die der Länder seien, aus denen sie kommen. Die drei Kinder vor dem Billa erteilen uns eine Lektion, ohne dass sie es bemerken oder wollen.
Kraut, Zwiebel und Tomaten kaufen wir frisch auf dem Markt und für das kleine Trinkgeld bekommen wir noch Blumenkohl dazu. Alles verstaut, treten wir den Heimweg an. Unterwegs halten wir und fragen noch einmal nach dem Anti-Gel. Morgen kommt die Lieferung, wird uns versichert und wir bestellen gleich die vier Kanister. Eine leere Gasflasche muss noch gegen eine volle getauscht und eine zusätzlich gekauft werden, jede à 11 Kilogramm. Als der Mann in der einen Quadratmeter großen Bude dafür umgerechnet 65 Euro verlangt, fällt uns wieder der Unterkiefer nach unten. „Es ist eben teurer geworden, was kann man machen.“, meint er und händigt uns die Flaschen aus, die mehr an Alteisen erinnern als an „Geprüfte Sicherheit“. Zu Hause angekommen, füllen sich die Küche mit Gemüse und der Kühlschrank mit dem Fleisch. Im Dachgeschoss sind die Arbeiten vorangeschritten und die Monteure beschließen, für heute die Arbeit ruhen zu lassen. Das Abendessen wird serviert und acht Deutsche am Tisch lassen die Küchenfrauen zur Hochform auflaufen. Während des Essens berichten wir Cristina von den Kindern vor dem Billa-Markt. Sie kennt sie. Wir erfahren, dass sie zu einigen Roma-Familien gehören, die am Rand der Stadt leben. Da diese Familien nirgendwo eine Anstellung oder etwas Ähnliches finden, sind sie immer hungrig. Im Gegensatz zu anderen baten sie nicht um Geld sondern um Lebensmittel und das hatte eben seinen Grund. Noch bis in die Nacht werden, in Vorbereitung des morgigen Tages, die 15 Krautköpfe klein geraspelt.
Der neue Morgen und das schöne Wetter motivieren bei der Erledigung der anstehenden Aufgaben. Die Heizungs- und Wasserbrigaden kennen ihre Aufgaben und die Stromtruppe kommt auch gut voran. Wir fahren mit Angelut nach Hunedoara, wo wir einen Arzt treffen wollen. Der Transporter ist mit Krankenhausmaterialien bestückt. Er bat darum, dass wir uns nicht im Krankenhaus treffen, denn von früheren Hilfslieferungen für das Krankenhaus sind auf den Stationen kaum Materialien angekommen. Wir warten am Kaufland, wo wir unbedingt die Qualität der „Original Turinger Bratwurst“ testen müssen. Man kann sie essen und sie sättigt, auch wenn sie natürlich mit der Herkunft nichts gemeinsam hat. Aber dafür kann die gute Frau, die sie verkauft, auch nichts - doch sie versteht den Spaß. Der Arzt kommt uns entgegen und fährt mit uns zu einer älteren Dame aus seiner Gemeinde. Unterwegs erzählt er, dass er jetzt in Elternzeit für den wenige Monate jungen Sohn ist. Dafür bekommen seine Frau und er mehr Geld, als wenn er im Krankenhaus arbeiten würde. Er hat Qualifikationen in den Bereichen der Orthopädie und Onkologie. Da seine Frau ebenfalls zu Hause ist, arbeitet er in dieser Zeit unentgeltlich. Menschen in Kinder- und Waisenhäusern, in Altenheimen oder private Bedürftige, die das „Zusatzgehalt“ für medizinisches Personals nicht aufbringen können, besucht und behandelt er. Wir sind überzeugt, dass unsere Materialien hier in den richtigen Händen sind und lagern sie in dem trockenen Keller seiner Bekannten ein. Er hat sich sein „Anti-Gel“ nicht durch die korrupten Umstände oder auf der Suche nach dem eigenen Erfolg nehmen lassen, sondern mit viel Wärme und Liebe wendet er sich denen zu, von denen sich andere abwenden oder denen sie egal sind.
Schließlich bekommen wir es noch, unser Anti-Gel. Die vier Kanister haben eben ihren Preis, die Alternative wäre die große Gefahr, dass die Rohre einfrieren und das wird um ein Vielfaches teuerer. Zurück gekehrt, sind die Frauen in der Küche voll im Rennen, denn in einer halben Stunde kommen die Kinder.
Und sie kommen pünktlich, der Kindergottesdienst beginnt. Mitten in der Woche und nachmittags um 15 Uhr wird die Kirche nahezu voll und begeistert beteiligen sich die Kinder. Sie verstehen die Botschaft, dass es egal ist, wie eine Kerze aussieht, entscheidend ist es, dass sie im Dunkeln leuchtet. Bei der Aussicht auf das gemeinsame Essen leuchten alle Augen. Wir staunen nicht schlecht, was sie für Portionen schaffen. Das spricht für die Tatsache, wie nötig sie diese Mahlzeiten brauchen. Und noch ist es schönstes Herbstwetter und kein Winter! Beim Rausgehen bekommt jedes Kind noch einen Pudding und kurz danach kommt der zweite Durchgang. Einigen alten Leuten wird das Essen nach Hause gebracht, so ist das immer. Nicht nur die großen Töpfe und Schüsseln sind am Abend leer, sondern auch der Brunnen. Solange es noch Wasser in der Leitung aus dem Wald gibt, füllen wir den Brunnen damit auf und lassen es die Nacht über fließen.
Am nächsten Tag sollen die Arbeiten im Obergeschoss beendet werden. Jeder weiß das und gibt sein Bestes. Draußen spielen die Kinder nach der Schule. Manche der Kinder gehen nur in die Schule, weil sie am Morgen ein Essenspaket mitbekommen. Die Verantwortung der Eltern wächst zwar mit den Jahren, doch es gibt da noch große Reserven. Es ist eben der endlose Kreislauf von eigens erlebter sozialer Schwäche, Bildungsarmut, fehlenden Chancen auf Arbeit und mangelnder Motivation auf Grund einer bis ins kleinste Glied mit Korruption durchdrungener Gesellschaft und Bürokratie. Trotzdem geben wir nicht auf. Cristinas Familie lebt es vor und es ziehen einige mit und nach. Acht Jugendliche und Erwachsene qualifizieren sich, machen Lyzeumsabschlüsse, Kurse in praktischen Berufen bis hin zu Laborarbeiten und Meisterschule. Das kostet in jedem Fall Geld, denn allein den Weg zu den Schulen können sie nicht finanzieren. Seit mehreren Jahren helfen wir dabei, denn die Motivation dazu war da und steigt stetig.
Es ist soweit. Bis spät in die Nacht hinein sind die letzten Lötstellen abgedichtet und es tropft nichts mehr. Viel Geduld war nötig bei denen, die auch in den engsten Ecken keine Scheu zeigten, die Rohre manchmal mehrmals zusammen zu stecken. Die Wasserleitung steht und der Boiler hängt und heizt. Dank des über Nacht gefüllten Brunnens drückt die Pumpe erstmals das Wasser bis ins Dachgeschoss. Unser Anti-Gel läuft langsam in die Rohre und die Heizung füllt sich damit auf. Eine Luftblase schleudert zwischendurch einen gehörigen Schwaps ins Gesicht dessen, der sich dieser wichtigen Aufgabe stellt. Doch er gibt nicht auf, wissend um die Wichtigkeit der Substanz. Eigentlich war das gar nicht nötig, denn er trägt, wie die anderen auch, das „Anti-Gel“, das Mittel gegen die Kälte in Form der Barmherzigkeit und der Liebe zu den Menschen hier, schon in sich. Das wurde in jedem Gespräch und vielen Gesten deutlich, nicht zuletzt in der Tatsache, dass sie alle sofort bereit waren, in Balanu diese Arbeiten mit auszuführen. Sie hätten ihren Urlaub auch anders verbringen können, doch das hier war ihnen dieses Mal wichtiger. Für uns bedeutet es den Abschluss der Bauarbeiten an diesem Haus - nach neun Jahren. Mit dem Haus ist der Segen gewachsen, der von ihm ins Dorf und weit darüber hinaus ausströmt. Der Gedanke daran lässt uns sehr ruhig schlafen.
Mit letzten Handgriffen montieren die Männer am Morgen noch das Toilettenbecken, sortieren Werkzeug und Material und verabschieden sich. Große Hände greifen nach kleinen, was sie verbindet weiß jede und jeder für sich, ohne darüber zu reden. Sie treten nach einer Woche die Heimreise an, wir den Gang zur Schule.
Mit Zeichnen wird am Freitag in der letzten Stunde die Schulwoche abgeschlossen. Der Lehrer klagt über den mangelnden Schulbesuch, wissend um die Probleme mit und von den Eltern. Oberhalb der Schule wächst die Zahl der Häuser und Hütten für „sozial Schwache“. Die kleinen Grundstücke bekommen die jungen Leute vom Bürgermeister. Auch Petronella wohnt mit ihrem Baby und dem Mann jetzt hier oben. Sie ruft uns rein und zeigt uns stolz das neue Haus. Mit 25 Quadratmetern ist es wirklich groß, zumal nur ein Bett, ein kleiner Schrank und ein Ofen drin stehen. Wenigstens haben sie jetzt dieses Haus, denn bisher waren sie immer nur irgendwo geduldet. Nach unserem Besuch bekamen sie dann einige Möbel mehr von Cristina. Die anderen Hütten gleichen denen in Märchen. Ein junger Mann lädt uns ein, bei ihm mal rein zu schauen. Bretter und Äste umrahmen die vier Quadratmeter, gleichsam einem Pferch. Rechts liegt an drei Wänden das „Bett“ auf, links steht der Ofen und geradeaus steht auf einer Brettablage eine Tube Colgate. Was soll man ihm sagen? Er zieht hinter einem Lappen eine Bibel vor, die er uns schenken möchte, aber wir erklären, dass wir die auch in seiner Sprache schon haben. Heute scheint die Sonne. Sie gibt den Blick auf eine traumhafte Gebirgslandschaft frei. Wie die Leute hier im Winter das Wasser und Essen hoch bekommen, daran will keiner von uns denken. Dennoch kommt der Winter auch hier oben mit Sicherheit an.
Die Zahl der Häuser wächst mit jedem Jahr und die Zahl der „märchenhaften“ Hütten, aus denen das Dorf noch vor zehn Jahren fast ausschließlich bestand, wird langsam kleiner. Das macht uns Mut und zeigt, dass die Menschen zuversichtlich geworden sind und den Blick nach oben und nach vorn richten. Die Kassen für die Sozialküche und Schulbrote, für medizinische Notfälle und Qualifizierungen, für Vidu, den alten Hirten und Liviu den ehemaligen Buchhalter und für manches mehr, füllen wir auf. Hunger haben sie im Winter alle. Manche haben es gelernt, sich vorzubereiten. Andere, wie die Genannten und einige mehr, schaffen das nicht mehr – oder - wie die Kinder, noch nicht. Wir kennen unsere Aufgaben und sind immer wieder bereit, sie neu zu ordnen und anzugehen. Doch jetzt reisen wir erst einmal wieder ab. Wir wissen voneinander, dass unsere Herzen noch schlagen und wir das andere spüren lassen dürfen. Wir sagen „Auf Wiedersehen“ und hoffen darauf. Die Kinder kommen gerannt und winken. Sie wissen nicht, dass wir sie immer vor unseren Augen haben, aber das müssen sie auch gar nicht wissen.
Wir erreichen am Abend Temeswar und kaufen für den nächsten Tag ein, denn dann soll in Jimbolia mit den Kindern Pizza gebacken werden. Und so passiert es dann auch. Nach der Ankunft in dem kleinen Kinderheim am Nachmittag laden wir Lebensmittel, Süßigkeiten, Kinderkleidung, Schuhe, Fahrräder, immer gesuchte Fußbälle, einen großen Tisch und einige Kleinmöbel aus. Noch ist es hell und im Garten findet sich Platz zum Spielen. Piroska, die Leiterin, sucht das Gespräch und es gibt so viel zu erzählen. Gesundheitlich angeschlagen, kann sie kaum eine Pause machen. Die Kinder sind da und die staatlichen Kontrollen sollen bald kommen. Doch auch in ihr lebt diese Herzenswärme unter den Bedingungen einer ständigen Überforderung. Steht ein Kind vor ihr, hat sie immer ein Ohr und bevor es geht, wird es warmherzig berührt. Wir montieren Möbel und auf dem neuen großen Esstisch bereiten die Kinder mit unseren Frauen die Pizza vor. Die neuen Schränke stehen am Platz und die Pizza auf dem Tisch, fertig zum Abendessen. Solche Sachen gemeinsam zu erleben, bescheren den Kinder, aber besonders Piroska, Momente des Glücks. Auch bekam sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein für sie persönlich vorbereitetes Päckchen, noch zumal zwei Tage vor ihrem Geburtstag. Den Dank dafür geben wir auch gern weiter. Wie bereits in Balanu, erkennen wir Kinderschuhe, Kleidung, Schulranzen und so manche Spur früherer Besuche wieder. Um Kinderstrümpfe, Unterwäsche, Winterjacken und Schulbedarf hatte uns Piroska gebeten, was ihr nie leicht fällt. Eine Torte für den Sonntag hält auch noch die Erinnerung an unseren Besuch am nächsten Tag wach. Als wir uns verabschieden ist es schon lange dunkel, doch wir müssen aufbrechen. Mehrmals kommen noch Nachrichten des Dankes und der Freude an.
Mit der Gemeinde feiern wir am Sonntag den Gottesdienst. Staatsbürgerschaften, Identitäten und die Frage danach, wo wir hin gehören, sind Inhalt der Predigt. Gern unterhalten wir uns mit vielen, die wir schon lange Zeit kennen und mit denen wir schon viel erlebt haben. Bauarbeiten im Turm stehen noch an und auch dafür findet sich ein Umschlag. Frau Schütz, die früher im Presbyterium tätig war und uns auch in Deutschland besucht hat, fand ein neues Zuhause in einem Altenheim. Wir besuchen sie. Schon lange kann sie nicht mehr aus dem Bett aufstehen und in ihrem Kopf ist es manchmal etwas durcheinander. Doch sie erkennt uns freudig und sofort. Beim Erzählen nimmt sie uns mit auf die Zeitreise durch ihre acht Jahrzehnte. Im Vor- und Zurückschauen lachen wir gemeinsam über so manches. Das war uns wichtig, sie wieder einmal lachen zu sehen, denn bei ihr kommt das nicht mehr so häufig vor. Nach dem letzten Abendessen bei Familie Kovacs fahren wir am nächsten Morgen 300 Kilometer nördlich nach Tasnad, einer Kleinstadt und besuchen eine befreundete Familie. Sie überlassen uns ihre Betten für zwei Nächte. In vielen und langen Gesprächen in ausgesprochen offener Atmosphäre unterhalten wir uns mit ihnen über ihre Arbeit, das Land und das Leben. Sie empfehlen uns für den nächsten Tag den Besuch in einem ehemaligen Gefängnis aus der Zeit des Sozialismus. In jeder der über 100 Zellen sind die Repressalien eines menschenverachtenden kommunistischen Regimes dokumentiert, unter denen die Menschen in diesem Land gelitten haben. Beginnend mit der Nachkriegszeit bis zum Dezember 1989 veranschaulichen die Lebensläufe und Schicksale tausender Dissidenten und Verfolgter über Verschleppung, Arbeitslager, Gefängnis und Folter bis hin zu Todesstrafen. Wer das nicht erdulden musste, litt meist unter den Folgen der Mangelwirtschaft, verursacht von einer machtbesessenen Elite, deren Bildungsnotstand und Größenwahn das Land an den Rand des Ruins führte. Ein bewegender Besuch, der einen umfassenden Realeindruck über diese Zeit bei uns hinterlassen hat.
Auf dem Rückweg, unmittelbar entlang der ukrainischen Grenze, halten wir am „lustigen Friedhof“ von Sapanta. Der Besuch dort wird in jedem rumänischen Reiseführer empfohlen. Auf Holztafeln gleichen Typs sind die mehr oder weniger beispielhaften Charaktere oder Episoden aus dem Leben der Verstorbenen, poetisch umschrieben, eingeschnitzt. An Gräbern markanter Personen des Dorfes, wie dem der „Schnapsdrossel“ oder dem des„boshaften Mannes“, finden sich für die Touristen besondere Hinweise.
Am nächsten Morgen treten wir die Rückfahrt nach Deutschland an. Viele Bekannte sahen wir wieder und neue Eindrücke nehmen wir mit. Sie prägen uns, geben Kraft und Zielrichtung. Was bleibt, sind nicht nur die Hilfsgüter und Spenden, sondern immer wieder die tief in den Menschen verwurzelte Gastfreundschaft, Offenheit und Ehrlichkeit, fern uns umgebender Klischees von „Rumänen, die alle nur betteln oder stehlen“. Wir erleben, dass Hilfe und Unterstützung Menschen anspornt, mehr daraus zu machen und Chancen zu nutzen. Wir erkennen Fortschritte in den Bereichen Bildung und Soziales. Neben Einzel- und Soforthilfen lernen unsere Freunde und Bekannten Kontinuität und Nachhaltigkeit zu schätzen und etwas daraus wachsen zu lassen. Das Miteinander dient dem Gemeinwohl, diese Erkenntnis wächst und trägt Frucht.
Anti-Gel kauften wir für die Heizung als Wärmeträger. Es war ausgesprochen teuer und somit wertvoll. Das Einfrieren der „Rohre“ bringt Gefahren mit sich und lässt jeden erstarren auf Grund von ihn umgebender Kälte und Egoismus. Wer einfriert kann keine Wärme geben und transportieren. Das möge uns und anderen erspart bleiben.
Viel Wärme und Herzlichkeit konnten wir von Ihnen allen transportieren - nicht nur, aber auch - über die Straßen nach und in Rumänien. Angespornt von herzlicher Hilfsbereitschaft wird es nach unserem Besuch bei einigen Menschen „wärmer“, nicht nur bei Laura und Daniel, aber auch bei ihnen. Die Ladung der Rückfahrt wiegt schwer.
Es sind die vielen Dankesgrüße an Sie für alles Mitdenken, Einpacken, Spenden, Helfen, Grüßen und Beten. „Anti-Gel“ war für uns ein neues Wort, doch dahinter verbergen sich ein uraltes Rezept und die Weisheit, die das Leben auf dieser Erde lebenswert macht. Dafür, dass Sie dieses Wissen darum praktisch und unkompliziert umgesetzt haben, danken wir Ihnen an dieser Stelle herzlich.
Eine gesegnete Zeit wünscht Ihnen, auch im Namen unserer Freunde,
Albrecht Feige, AK Rumänien