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Germania - Romania und zurück - April 1999 

Früher als in den vergangenen Jahren sollte in diesem Jahr schon im April ein Transport mit Hilfsgütern nach Rumänien starten. Ziel war wieder die Stadt Temeswar und dort die Evangelische Kirchgemeinde. Die Eindrücke und Erfahrungen der letzten Reise im Oktober 1998 prägten die Vorbereitungen und Aufgaben, die sich nach der Arbeit der vergangenen Jahre neu stellten. Alte Weisheiten besagen, dass nur mit vereinten Kräften, sprich mit der Hilfe vieler Menschen, auch mehr bewegt werden kann.

Das ist in Zeiten weltweiter Krisen und Kriege, verbunden mit tiefsten persönlichen Schicksalen und Katastrophen eine Aufgabe, ohne deren Wahrnehmung wohl niemand mehr ruhig schlafen kann. Die jedem Menschen verständliche Tatsache, dass nicht jeder in allen Krisenregionen richtig helfen kann, sollte jedoch nicht in einer allgemeinen Resignation oder Depression enden. Ohne die Augen vor den Bildern der Tragödie im Kosovo zu verschließen, haben wir die Armut und Not derer vor Augen, die uns im Oktober in Rumänien gegenüberstanden. Die Vielzahl der Hilfsangebote, für den Kosovo, für den Sudan oder Äthiopien, für Indien oder Guatemala oder wo auch sonst, lassen hoffen, dass sich immer mehr Menschen ansprechen lassen, aus welchen Gründen auch immer, einen Funken Licht in die Hoffnungslosigkeit und das Elend des größten Teils der Menschheit zu bringen. 

Hier hat sich die Kirchgemeinde Neudietendorf einer Aufgabe in Rumänien gestellt und so, mit der Hilfe vieler Einzelner, den April-Transport ermöglicht. Angesprochen von der Notwendigkeit dieser Aufgabe beteiligte sich in diesem Jahr auch die Kirchgemeinde Ingersleben an der Hilfssendung. Nur gemeinsam war es möglich, die Aufgaben der Vorbereitung zu lösen, die noch zwei Wochen vor dem Start unmöglich schienen.

Das erste Mal mussten nun auch die sehr aufwendigen Formalitäten von uns erledigt werden, deren Umfang einen ganzen Hefter füllt und die sich über mehrere Monate hinzogen. Aber ohne viele Stempel und Unterschriften der verschiedenen Behörden geht ja bekanntlich gar nichts. Ebenso wichtig war die Bereitschaft des Autohauses Seyfarth aus Gotha und die des Kolping-Bildungswerkes Erfurt, uns für diese Fahrt die entsprechenden fahrbaren Untersätze fast kostenneutral zu überlassen. Gefüllt mit Kleidung, Lebensmitteln, Schul- und Schreibwaren, Spielzeug, Schuhen, Federbetten, einer Babywiege, mit Kinderwagen, Werkzeug, Gartenschlauch, Kochtöpfen, Flöten, Bibeln und Büchern (in rumänischer Sprache), Teppichen, Fahrrädern, Süßigkeiten, Tee und Kaffee, einem Grabkreuz, Schüsseln und einigen Kilo Medikamenten starten wir zu viert am 18. April um 4.30 Uhr.

Uns begleiten die Gedanken und Gebete vieler Menschen von Weimar bis Gotha, die diesen  Transport erst ermöglichten. Neben den aufgezählten Waren, die die Autos bis zur letzten Lücke füllten, war auch eine inhaltsreiche Brieftasche dabei. Unser Anliegen war es, der Kirchgemeinde Temeswar nicht nur mit besagtem Gepäck, sondern auch bei der Reparatur des Kirchturmes und des Daches zu helfen. Der Kostenvoranschlag eines Architekten legte den dringendsten Bedarf mit umgerechnet 3700,00 DM fest. Das war, verbunden mit den unvermeidlichen Fahrtkosten, der größte Brocken.

Nach 31 Stunden Fahrt, unterbrochen von Drohungen ungarischer Zollbeamter wieder nach Deutschland zurück fahren zu müssen, endlosen fünf Wartestunden in einer eisigen Nacht, dem zusätzlichen Anfahren eines weiteren Grenzüberganges und dem nicht auszudrückenden Gefühl nach der Aufforderung, die Autos an der Grenze zur Kontrolle auszuladen, kommen wir am Montag gegen Mittag wohlbehalten in Temeswar an. Das Ausladen der Autos zur Kontrolle konnten wir mit zwei „Beuteln“ gerade noch umgehen. Nach einer der rumänischen Gastfreundlichkeit entsprechenden Mahlzeit bei Pastor Kovacs und seiner Frau ist unsere körperliche Verfassung wieder einigermaßen hergestellt. Nun präparieren wir die Autos für den Binnenzoll. Medikamente, als nur ein Beispiel, wären Grund genug gewesen, uns sofort wieder in Richtung Heimat zu schicken. Beide Autos werden aus- und wieder eingeräumt und uns bleiben noch eineinhalb Stunden für die örtlichen Behörden. Mit einer finanziellen Zuwendung für die bedürftigen Beamten ist es nach zwei Stunden möglich, die Formalitäten soweit zu erledigen, dass die Papiere am nächsten Morgen vom Pfarrer abgeholt werden können. Der Computer wird pünktlich 15.50 Uhr ausgeschaltet. Zurück im Pfarrhaus ordnen wir die Sachen und sortieren und alles für den weiteren Transport nach Hunedoara. Als sich das schwere Tor der Einfahrt öffnet, erscheinen drei Beamte des Zolls, um die Sachen noch einmal zu inspizieren. Es stellt sich heraus, dass neben der hübschen Zollbeamtin noch der Chef der Zollfahndung und der der Steuerpolizei oder so etwas ähnlichem anwesend sind. Was sich dann abspielt, lässt uns tiefer in biblische Geschichten Einblick nehmen, in denen Zöllner auftreten und wo deren Berufsbild genauer beschrieben wird. Auf Details soll bewusst verzichtet werden. Mit gut gefüllten Plastiktüten verlassen sie uns nach einer Stunde. Wir sind wieder unter uns, nicht ohne das Gefühl, etwas Neues erlebt zu haben.

In Ruhe sortieren wir nun die Sachen fertig und übergeben das, was für die Kirchgemeinde bestimmt ist, an Pfarrer Kovacs.

Allmählich weicht der Schock der Freude angesichts der herzlichen Aufnahme. Wir sehen uns mit ihm die Kirche an, kletterten über ein leiterähnliches Etwas auf den Turm und sehen auch die Schäden, die sich im Vergleich zum Oktober des vergangenen Jahres deutlich ausgeweitet haben. Ein langes Abdeckblech schwebt bedrohlich über den zum Scheidungsgericht eilenden Fußgängern und deren Fahrzeugen. Einen ebenso auf den letzten Windstoß wartenden Dachziegel und das Blech nehmen wir ab und steigen dazu aus dem Turm. Als wir anschließend den Spendenumschlag mit den 3800,00 DM für die Reparatur dem Pfarrer übergeben, ist unsere Freude darüber wohl genauso groß wie seine. Damit hat er nicht gerechnet und wird nun bis zur 160-Jahrfeier der Kirche im Oktober diesen Jahres die nötigsten Reparaturen erledigen können. Allein hätte die Gemeinde mit ihren 280 Mitgliedern, hauptsächlich Deutsche und Ungarn, eine solche Summe nicht aufbringen können.

Nachdem nun am nächsten Morgen doch alle Zollpapiere an Bord sind, besuchen wir mit Pfarrer Kovacs einige Gemeindegliedern zu Hause.

Das Ehepaar Ernst wohnt am Rande der Stadt in einem kleinen Haus. Während die Frau seit Jahren gehbehindert und schwerhörig ist, gehört ihr Mann zu denen, die nach einem fehlenden Gottesdienstbesuch sofort vom Pfarrer besucht werden, weil dann irgendetwas passiert ist. Jahrzehntelang hat sich Herr Ernst um seine Gemeinde mit den Menschen gekümmert und auch so manchen Pastor in der Gemeinde schon begrüßt und verabschiedet. Schlicht und bescheiden erscheinen uns nicht nur das Haus, sondern auch seine Bewohner, und tief sitzt noch der Schmerz um die kürzlich verstorbene Schwiegertochter. Nicht zu beschreiben ist die Freude über unseren unerwarteten Besuch aus Deutschland, das mitgebrachte Paket und das Losungsheftchen.

Der zweite Besuch führt uns in die vierte Etage eines Plattenbaus, in dem eine 69-jährige Frau namens Eva wohnt. Sie erzählt in sehr gutem Deutsch aus ihrem Leben, das stark geprägt ist von der mit dem 26. Lebensjahr eingetretenen Kinderlähmung. Seit dieser Zeit hat sie ihre Wohnung nicht verlassen können. Bücher auf ihrem Tisch und Arbeiten für eine Zeitung, nicht am Computer, sondern mit Bleistift und auf minderwertigem Papier erstellt, zeugen von einer gebildeten Frau, der es jetzt eine Freude ist, sich mit uns unterhalten zu können.

Zwei Besuche in einer Gemeinde, deren Menschen sich an den Rand des Lebens gedrängt sehen, in einem Land, das viele Jahre von Korruption in den verschiedenen Gesellschaftsordnungen, soweit man von „Ordnungen“ sprechen kann, geprägt wurde. Vom Zollbeamten bis zum Müllfahrer scheint das Land nur so zu funktionieren. Bezahlen müssen es wie überall diejenigen, die nichts zum Bezahlen haben. Auf dem Weg zum Markt begegnen uns junge bettelnde Menschen, die in jüngster Kindheit von den eigenen Eltern ihre Gliedmaßen verbogen bekamen, mit dem Ziel, als Bettler einmal das Überleben der Eltern zu gewährleisten. Hilfeschreie einer Gesellschaft auf der Suche nach Ziel und Inhalten des Lebens begegnen uns so auf Schritt und Tritt. Wegsehen und weiterlaufen können wir einfach nicht mehr.

Wir besuchen eine Kirchgemeinde, die versucht, ein wenig Hilfe zu leisten, soweit das die Möglichkeiten zulassen, selbst wenn das Gehalt von Frau Kovacs,  Pastorin einer reformierten Gemeinde, bisher noch nie vollständig gezahlt werden konnte. Mit dem Mal-, Schreib- und Spielzeug unseres Transportes wird wohl das Sommercamp der Kinder und Jugendlichen der Gemeinde etwas farbenfreundlicher aussehen. Wir hoffen, mit unserem Besuch auch ein wenig Farbe in die Welt der Menschen gebracht zu haben, die sonst nur wenig Schönes erleben.

Nach zwei Tagen geht unsere Reise Richtung Osten nach Hunedoara weiter, wo einige private Kontakte bestehen. Wir fahren durch ein Land, das sich in seiner ganzen Natürlichkeit und Schönheit bei herrlichem Sonnenschein präsentiert.

Das freundliche Gesicht einer Schäferin für eine Tafel Schokolade aus dem fahrenden Auto, der Blick über weite Hügellandschaften zu den schneebedeckten Gipfeln des Retezatgebirges lassen uns für Momente vergessen, dass die Mehrzahl der Bevölkerung des Landes einen harten Kampf des Überlebens kämpft. Überschwemmte Gebiete rechts und links der höher gelegten Straßen erinnern an die Naturgewalten, die mit dem Ende des Winters wieder manche zusätzliche Not mit sich brachten. Richtig bewusst wird uns alles wieder, als wir von der Schar der Kinder und Erwachsenen umringt stehen, die schon seit unserem letzten Besuch dringend auf uns warten.

Äußerlich hat sich bei Familie Filip nur so viel verändert, dass der Vater nun keine Arbeit mehr hat; es hat sich aber doch so viel verändert, dass die 4 bis 13 jährigen Kinder nicht mehr zusätzlich zur Schule auch noch arbeiten gehen müssen, um zu überleben. Was sich nicht geändert hat, ist die Freundlichkeit eines Empfangs, der keiner Worte bedarf, um das Herz überlaufen zu lassen. Auf dem Friedhof tauschen wir das an einem Metallrohr befestigte Blechschild mit dem Namen der Großmutter gegen ein Holzkreuz aus. Im Gemeinderaum inmitten der kleinen "Häuser" der Familie wird die Fassung und Glühlampe gegen zwei Lampen ausgewechselt. Die Kreissäge, deren Zahnzahl am einzigen Blatt schon um ein Drittel geschrumpft ist, braucht nun nicht mehr mit den zwei blanken Drähten der Zuleitung verdreht werden, sie erhält ein neues Kabel mit Stecker. Der Gasgeruch, bedingt durch den defekten Herd, den nicht mehr funktionierenden Regler und die fehlenden Schlauchschellen gehört nun der Vergangenheit an und die Wäsche braucht nicht mehr gegen Geld im Kombinat, sondern kann in einer Waschmaschine selbst gewaschen werden. Die Anschlüsse dafür stellen wir her. Dinge die sich diese Menschen nie hätten erlauben können, weil sie alle Mittel einsetzen, um für ihre Kinder zu sorgen.

Da wir für diesen Besuch mehr Zeit benötigten, war die Gelegenheit gegeben, sich auch näher kennen zu lernen. Was in Briefen nur bedingt erlebbar ist, begegnete uns nun hautnah. Im Wohnzimmer, das sonst wohl nur zu Weihnachten betreten wird, deckt uns Frau Filip den Tisch und die offene Heizspirale des "Elektro-Ofens" gestaltet die Zimmertemperatur erträglich. Der halbe Eimer frischen, handgeschöpften Brunnenwassers auf dem Hof macht morgens nach einer schlaflosen Nacht wieder richtig munter. Der Verzehr eines der fünf Hühner der Familie zum Mittag hinterlässt bei allen dreizehn Essern nicht den Eindruck, noch hungrig zu sein. Die Abende des Erzählens in der Küche, in der anschließend die Eltern mit drei Kindern schlafen, das Sitzen auf den kurzen, grün lackierten Rundhölzern (der Gast kann das Ziegenfell unterlegen) und die peinliche Sauberkeit um uns herum, sind Dinge, die zur Verarbeitung immer noch eine ganze Zeit brauchen. Ein Besuch in der Grundschule des Ortes und dem Kindergarten, wo wir einige Kleinigkeiten abgeben, wird noch so manchem Kind eine gute Erinnerung bleiben. Selbst das auf der Hinfahrt zerschundene Radlager wird durch gute Freunde vor Ort repariert, in einer Werkstatt, die der ganze Stolz ihres Besitzers ist. Uns, die wir sicher noch das Improvisieren gelernt haben, bleiben trotzdem nur Mund und Augen offen stehen.

Ankunft Autobahnanschlussstelle Neudietendorf - Samstag, 24.04.1999; 4.00 Uhr:

Wir kehren zurück nach Deutschland, regeln die Rückgabe der Autos und kehren in den gewohnten Alltag zurück. Wir sind berührt und vieles  ist neu in uns verwurzelt.

Nicht nur die Autos sind leer, sondern auch unsere Hände, die in Vielem einfach hilflos sind, nicht perfekt, aber bereit, weiter zu machen. Abgeben wollen wir lernen, an Menschen, die es brauchen und die uns ans Herz gewachsen sind, weil für sie das Leben sonst noch schwerer wäre. Dankbar kommen wir zurück, weil wir ein wenig helfen konnten, gemeinsam mit Ihnen allen, die diese Hilfe und den Transport erst ermöglicht haben. Dankbar sind wir auch, weil bei uns manches leichter ist, aber ist es uns das wirklich bei den Gedanken an das soeben Erlebte? Wohl nur, wenn diese Hilfe weiter gehen kann.

Gern würden wir uns an dieser Stelle bei jedem Einzelnen bedanken, aber die Zahl der Helfer, ob Firmen oder Personen, ist stark gewachsen, deshalb bitten wir um Verständnis. Besonders danken wir aber dem Hertie-Kaufhaus in Erfurt, der Fa. Bau-Union in Wandersleben, den drei Baumärkten in Arnstadt, der Geschenk-Boutique B. Mälzer in Siebleben, der Fa. Bauteile & Keybord GmbH in Ingersleben, der Fa. Rzepecki und der Fa. Grobe-Neukauf in Neudietendorf, den Kindern und Eltern des Evangelischen Kindergartens in Neudietendorf, den Schüler/innen und Lehrer/innen der drei Neudietendorfer Schulen, den Sponsoren der Fahrzeuge und nicht zuletzt jedem, der mitgeholfen hat und hier nicht namentlich genannt werden kann.

Im Namen der Empfänger, die uns baten, Sie alle herzlich zu grüßen und Ihnen zu danken, geben wir dieses gern weiter. In unserem Namen danken wir, weil wir uns mit Ihnen gemeinsam in einer Sache verbunden wissen, die sich auch ohne aufwändige Wirtschaftlichkeitsberechnung einfach zu tun lohnt.

 

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