Mai 2002 - Wer Freunde hat, hat Freude – WILLKOMMEN liebe Freunde!
Die erste Tür in Rumänien, an der wir anlässlich unseres Besuches in diesem Frühjahr klingeln, trägt diese Worte auf einem Plakat. Pfarrer Kovacs in Temeswar mit seiner Familie begrüßt uns nach der zwanzigstündigen Fahrt am Morgen des 19. April auf diese Weise in seiner Wohnung.
Die Wiedersehensfreude auf beiden Seiten rückt die erheblichen Repressalien an der Grenze, sprich Kontrollen, Diskussionen und Geldzahlungen, in den Hintergrund. Zu fünft sind wir mit einem Kleinbus und einem PKW angereist. Einiges haben wir uns vorgenommen und wie ein leeres Blatt Papier liegen die Tage in Rumänien wieder vor uns. Die Herzlichkeit der Begrüßung, garniert mit den landestypischen Köstlichkeiten, begegnet uns in den kommenden Tagen noch oft.
Nach einer ausgedehnten Mahlzeit entscheiden wir uns dazu, die Müdigkeit durch das Ausladen des bis zur kleinsten Lücke gefüllten Kleinbusses zu vertreiben. Kleidung, Schuhe, Medikamente, Süßigkeiten, Schulmaterialien, Lebensmittel, Bälle, Bibeln und Literatur, Wurstwaren, Staubsauger, Kettensäge, Wasch- und Reinigungsmittel, Spielsachen, verpackt, versteckt und vorsortiert, laden wir aus und stellen das Gepäck für die einzelnen, noch vor uns liegenden Stationen zurecht. Froh sind wir, mit all dem Mitgebrachten unfallfrei und wohlbehalten im Land angekommen zu sein. So viele Kartons, Taschen, Koffer und Beutel wie wir vor uns sehen, so viele Menschen wissen wir als Helfer und Aktive, die uns bei dieser Arbeit unterstützen. Gerade beim Auspacken gehen die Gedanken immer wieder nach Deutschland und dankbar sind wir, dass auf diese Weise die Fahrt wieder möglich wurde.
Für den nächsten Tag ist ein Treffen mit Dr. Jakob vorbereitet. Er ist Arzt. Als Freund der Gemeinde untersucht und behandelt er in der Arztstube der Kirchgemeinde im Rahmen der Möglichkeiten die Gemeindeglieder - und das alles kostenlos! Stolz erzählt uns Pastor Kovacs, dass diese von uns finanzierte Arztstube im Pfarrhaus die einzige in der ganzen Evangelischen Kirche in Rumänien ist. Bei einem Treffen der Kirche erzählte er dort davon und niemand sonst hatte so etwas. Allein eine ärztliche Grunduntersuchung wird in Rumänien von der Krankenversicherung finanziert, Behandlung und Medikamente muss der Patient finanziell allein tragen und das bei uns bekannten Lohnnebenkosten. Wen wundert es, dass Rumänien die niedrigste Lebenserwartung und die höchste Säuglingssterblichkeit im europäischen Raum hat, wenn das Geld vorrangig für die Wohnung und den Strom zusammengekratzt wird und zum Leben auch noch etwas übrig bleiben muss?
Dr. Jakob freut sich deshalb besonders über die vielen Medikamente. Zwölf Personen kommen anschließend zur Untersuchung, zum EKG oder zum Zuckertest und ständig durchforstet er die noch nicht sortierten Medikamente, die wir mitbringen konnten, und verteilt sie.
Besuche stehen nun auf dem Programm. Alte Gemeindeglieder, ans Haus oder die Wohnung gebunden, freuen sich über unser Kommen. Viele besuchten wir bereits früher. Uns fällt es auf, dass die Gebrechlichsten von der Krankenschwester der Gemeinde betreut werden. Einigen geht es sogar ein wenig besser als noch bei unserem letzten Besuch im November. Frau Gindel wird nach eineinhalbjähriger Bettlägerigkeit bald im Garten sitzen können, dank des Rollstuhles eines Neudietendorfers. Können wir ahnen, was so etwas bedeutet? Alle freuen sich über einige Lebensmittel aus Deutschland, werden doch die Rationen im eigenen Haushalt bei einer jährlichen Inflationsrate des Landes von über 20 % vorerst nicht üppiger ausfallen können.
Und trotzdem! Lebensfreude pur erleben wir durch eine Einladung des Deutschen Forums im „Dr.-Müller-Guttenbrunnhaus“. Auf der Bühne des prall gefüllten Saales stellen sich Tanzgruppen des Landes vor. Sprühend vor Temperament und Begeisterung, gekleidet in Trachten der jeweiligen Region, reißen sie uns mit in die Welt ihrer Kultur und Folklore. Nichts wirkt aufgesetzt und verordnet, Freude und Können pur erleben wir im über zweistündigen Programm der Mitwirkenden aller Altersklassen.
Am Abend sind wir bei Freunden zum Essen eingeladen. Die Sekretärin der Gemeinde hat mit ihrem Mann alles vorbereitet. Sieben Stunden hat er das Feuer im Hof mit dem darüber hängenden Kesselfleisch gehütet, bis wir es dann gemeinsam genießen können. Und wir haben es genossen! Danke sagen unsere Freunde so für alles, was viele Menschen unserer Gemeinden und Dörfer für sie tun.
Nach dem Sonntagsgottesdienst treffen wir uns zu Gesprächen mit den Besuchern und Presbytern. Fast jeder hat einen Kalender abbekommen, die wir von Buchhandlungen aus Jena und Erfurt im Gepäck hatten. Einige bedanken sich gerade auch dafür besonders bei uns. Dem Presbyterium übergeben wir zur Absicherung wichtiger sozialer Dienste und der enorm hohen Nebenkosten Spendengelder, das erste Mal in Euro.
Einiges steht noch auf unserem Programm und nach einem letzten Besuch am Montagmorgen bei Frau Isabella, der alten Buchhalterin der Gemeinde, geht die Fahrt nach Hunedoara. Schafherden, Hügelland, in der Ferne das Gebirge, die Leute in den kleinen Dörfern auf ihren Bänken vor den Häusern, vieles davon ist uns schon vertraut und gern sehen wir alles wieder. Die Sauberkeit der Orte und Straßenränder fällt uns auf. Seit Januar zahlt der Staat umgerechnet zwanzig Euro Sozialhilfe an Bedürftige. Die Auflage, dafür 72 Stunden im Monat gemeinnützige Arbeiten zu verrichten, ist zu erfüllen. Es funktioniert. Viele Bedürftige gibt es. Überall sehen wir diese Leute, nicht nur Roma. Oft bereitet es ihnen Mühe, mit dem klapprigen Pferdewagen dem Bahndamm zu folgen oder mit dem Pinsel die Ölfarbe in rot und weiß auf die Bordsteine an der stark befahrenen Stadtstraße zu streichen. Aber die Veränderungen diesbezüglich sind überall auffällig.
Hunedoara begrüßt uns mit dem rot-grauen Industrienebel über der Stadt, unsere Freunde mit der strahlenden Sonne in den Gesichtern. Vor dem ersten großen Regenguss nach einigen Monaten Trockenheit schaffen wir es gerade noch, die Autos auszuräumen. Schnell ist der Kaffee gekocht und das Essen auf dem Tisch, alles ist vorbereitet und wir freuen uns gemeinsam über das Wiedersehen. Für sie ist mit unseren Besuchen einiges im Leben leichter geworden. Im und um das Haus kann man es sehen. Und gleichzeitig geben sie weiter und organisieren die Arbeit in der Schule und dem Kindergarten, rechnen die Gelder vom letzten Besuch dort mit den Quittungen ab und bereiten mit uns den Besuch am nächsten Morgen vor. Für die Kinder werden wieder die Tüten mit Wurst, allerlei Süßigkeiten und einigen Kleinigkeiten gepackt. Das orthodoxe Osterfest steht am 5. Mai noch bevor, während wir es schon gefeiert haben. Vieles wurde uns davon mitgegeben. Von den Kindern des Evangelischen Kindergartens und den Schülern der Grund- und der Regelschule in Neudietendorf, Geschäften und großen Märkten unserer Region, einzelnen Leuten oder Familien unserer Umgebung bis hin zum Kindergarten in Finsterbergen bekamen wir Dinge, die wir jetzt verteilen können. Gern geben wir es an die Kinder weiter. Im anschließenden Gespräch bedanken sich die Lehrerin und Kindergärtnerin besonders dafür, dass wir diese Kinder hier nicht vergessen und dafür, dass wir jedes Mal etwas für sie alle dabei haben. „Gern würden wir den dritten Raum für den Kindergarten noch renovieren und der Kachelofen ist dort auch nicht mehr zu benutzen.“ So antworten sie ein wenig zurückhaltend auf unsere Fragen nach Problemen. Die Lehrer der Regelschule Neudietendorf spendeten Geld, was genau für diesen Zweck zum Einsatz kommen wird. Bälle und Spielzeug für den Kindergarten, Hefte, Schulmaterial und Kreide übergeben wir, bevor die Reise an diesem Tag noch weitergeht.
Nach vierzig Kilometern endet mit dem Ort Balanu, zugehörig zur Verwaltungsgemeinschaft Riu de Mori, auch der Weg im Retezat-Gebirge. Eingebettet im Gebirgstal und parallel zum Fluss verlaufend, bewältigen wir auch die letzten unbefestigten Kilometer dieses Weges. Rechts und links streifen wir mit dem Auto die Blätter der Bäume. Gut, dass es nicht regnet. Im Ort angekommen, gelingt es uns auch, den Kleinbus zu wenden. Es ist die einzige Möglichkeit hier, zwischen dem ersten und zweiten Haus. Schnell versammelt sich eine Vielzahl von Einwohnern um das Auto. Schließlich hatten wir doch versprochen, im Frühjahr mit Kleidung wieder in den Ort zu kommen.
Frau Cristina, mit der wir nach dem ersten Besuch im November vorigen Jahres im Briefkontakt stehen, kommt auch angerannt. Groß ist ihre Freude darüber, dass wir das Versprechen, wieder zu kommen, einlösen konnten.
Aus taktischen Gründen bitten wir die Leute, vorerst für eine halbe Stunde wieder nach Hause zu gehen, was auch zum großen Erstaunen unproblematisch passiert. In Ruhe bereiten wir im Kirchgemeinderaum die Verteilung der Kleidung, Lebensmittel und Süßigkeiten vor und sprechen alles ab. Cristinas Mann macht eine Liste der einzelnen Familien und bald sind alle wieder versammelt. Einzeln lässt er jede Familie herein. Kinder hat wohl jede Familie und für sie alle reichen die Süßigkeiten gut. Ungefähr siebzig Kinder unter achtzehn Jahren wohnen im Dorf. Schuhe werden anprobiert und Spielsachen verteilt. Während wir auf die letzte Familie noch zwanzig Minuten warten müssen, bringen einige der Leute einzelne Kleidungsstücke zurück zum Umtausch. Dann kommt die Abordnung der letzten Familie. Wir fragen wie bisher nach der Anzahl und dem Alter der Kinder. Die Antwort: Achtzehn Kinder im Alter von zwei bis zweiundzwanzig. Wir fragen nochmals, aber wir hatten richtig verstanden. Wir packen den ganzen Rest der Kleidung zusammen. Vor ihnen liegt noch ein weiter Heimweg bis zum letzten Haus unten am Fluss, aber auf der anderen Seite.
Nach den fünf Stunden Sortieren und Verteilen ist unser Gang durchs Dorf etwas mühsam, denn es hat zwischendurch geregnet. Vorbei an den Holzhütten mit den kaputten Dächern und Wänden schaffen wir es bis zum letzten Gebäude auf dem Berg, der Schule. Drei Räume beherbergt sie: den Schulraum ohne Fenster, den Raum mit Brennholz und Hackklotz und den letzten Raum mit dem eingefallenen Dach und durchschlagener Decke.
Zum Essen werden wir auf dem Rückweg noch bei Cristinas Mutter eingeladen. Manchmal müssen wir uns am fast durchgerosteten Maschendraht der ausgebeulten Zäune festhalten, weil es bergab geht. Bergab geht es nur mit dem Weg, mit dem Leben in diesem Dorf kann es nicht weiter bergab gehen. Ein Blick in die offene Kellertür eines Hauses lässt uns dort die Schlafplätze erkennen.
1500 Kilometer entfernt von Deutschland stehen wir an dieser Stelle nicht nur in einem anderen Land, sondern auch in einer anderen Welt, wohl in der dritten, meinen einige von uns. Beim Essen am für uns reich gedeckten Tisch betonen wir, nicht mit Kleidung wiederkommen zu können, da der Zoll das unmöglich macht. Oft hatten wir es schon an diesem Tag gesagt. Aber wir wollen nicht nach den Unmöglichkeiten fragen, sondern unsere Möglichkeiten erkennen. Wir äußern unseren Gedanken von zu Hause, eine Nähstube für drei Frauen einzurichten, die dann für die Kinder Kleidung nähen könnten. Und wir stoßen auf offene Ohren, denn Cristinas Schwester unterrichtet in der Stadt Schülerinnen im Nähen. Gerne ist sie bereit, es in die Hand zu nehmen. Schnell ist uns unsere Aufgabe klar und die Freude ist beiderseits. Bis Ostern sollten wir doch noch im Dorf bleiben und zwei Wochen im Retezat Urlaub machen. Leider müssen wir aufbrechen. Herzlich ist die Verabschiedung und versprochen ist es, weiter Kontakt zu halten. Enttäuscht wurden die Leute diesbezüglich schon einmal durch andere Gäste.
Still verläuft die Fahrt nach Hunedoara und auch unsere Freunde von dort, die uns bei der Aktion geholfen haben, sind es. Froh und dankbar sind wir, dass alles friedlich und für alle gut abgelaufen ist. Was wir „erreicht“ haben? Nach unseren Vorstellungen wohl wenig, aber doch so viel, dass sich die Menschen des Ortes und besonders die Kinder einmal gefreut haben. Und das war es wert. Wie es weiter gehen soll - wir wissen es noch nicht, aber wir werden es erleben.
Ein großes Lebensmittelpaket befindet noch im Auto. Eine Familie aus unserer Region gab es uns mit für eine Familie in Rumänien. Zwar sind die Absender auch arbeitslos, aber sie wollten trotzdem etwas beisteuern. Nach einigem Überlegen führen uns Alexandru und Adriana aus Racastia nach Calan. Eine Frau, wohl 30 Jahre alt, öffnet nach dem Klingeln. Der Mann ist leider nicht zu Hause, er ist Prediger. In wenigen Augenblicken sind die Kinder auch zur Stelle. Acht Paar Kinderaugen staunen nun, gemeinsam mit der Mutter, was in ein solches Paket passt. Ob es Makkaroni sind, will einer der Kleinen mit seinen drei Jahren wissen und hält der Mutter eine Strumpfhose entgegen. Niemand soll denken, dass alles nur ernst zugeht, auch wenn das Leben dort nicht immer so sehr lustig ist. Schön ist es dann zu sehen, wie sich die Kinder, schon ein wenig schokoladenverschmiert, zum Abschied aufreihen. Herzlich danken sie für alles.
Am folgenden Tag besuchen wir noch Alba Julia, eine historischen Stadt in Siebenbürgen. Wir sehen uns den Saal an, in dem 1918 das Dekret zur Vereinigung zum heutigen Rumänien unterzeichnet wurde. Fünfundsiebzig Kilometer sind wir von Hunedoara entfernt, keiner unserer Freunde war schon einmal in dieser Stadt. Für die Kinder der Filip-Familie, die an diesem Tag „schulfrei“ feiern, ist es praktischer Geschichtsunterricht. Zurück führt uns der Weg durch alte Weindörfer, und in einem kleinen Keller lassen wir uns zwanzig Jahre alten Wein für zu Hause zapfen. Bis auf 1440 Meter Höhe strapazieren wir noch das Auto, um auf der Spitze des Semenic-Gebirges im Schnee zu stehen und die Weite des Gebirgslandes bei herrlichem Sonnenschein zu erleben.
Den unvermeidlichen Abschieden folgt am 26. April die Heimfahrt. Noch während der Gedanken an das wohl einmalige Bratwurstessen bei den Freunden, den Bildern der Menschen und Hütten in Balanu, dem Jungen in Temeswar, der statt Geld ein McDonald-Essen bekam und dabei seinen Augen nicht traute, den Kindern in der Schule mit den Osterhasen oder den Alten und Einsamen, die sich so über den Besuch gefreut hatten, erreicht uns im Auto die unfassbare Nachricht vom Massaker in der Erfurter Schule. Zu fassen ist es bis heute nicht. Aber wir müssen es wieder neu lernen, aufeinander zuzurücken. Wenn diese Welt noch lebenswert sein soll, dann nur im Miteinander und Füreinander. Das ist uns in dieser Situation wieder deutlicher bewusst als je zuvor.
„Wir können leider nur kleine Brötchen backen!“, sagte einer im Blick auf die Nöte der Welt und die kleinen Hilfsaktionen. „Aber viele kleine Brötchen machen auch satt!“, bekam er zur Antwort.
Danke sagen unsere Freunde für alles, was sie bekommen haben. Danke sagen sie auch dafür, dass andere an sie denken. Beides ist gleich wichtig und auch gleich-ge-wichtig, beides ist voneinander abhängig.
Ihren Dank leiten wir gern weiter an Sie alle, die Sie mitgedacht und mitgeholfen haben. Das Erlebte auszudrücken fällt uns schwer und die Fotos sind unrealistisch schön. Realistisch sind die Situationen, aber auch die Hilfen. Wir wollen weitermachen, denn neue Aufgaben warten. Dringend muss das Dach des Pfarrhauses in Temeswar repariert werden und dringend ist es, die begonnen Aufgaben weiterzuführen. Im Vertrauen auf Gottes Hilfe und auf Ihre Mitarbeit wollen wir diesen Weg weiter gehen. Freude bekommen wir dadurch vielfältig und das ist ein herrlicher Lohn. Danke allen, die mit dabei sind!