Mai 2011 - Am Hang
Der Monat Mai geht langsam dem Ende entgegen. Von der Frühjahrsfahrt aus Rumänien sind wir wieder zurück. Unsere gewohnte Umgebung begrüßt uns und wir fassen Fuß. Hinter uns liegen Tage der Begegnungen mit Freunden, mit Bauarbeiten, Kinderspielen und neuen Erkenntnissen und etwas mehr als 3500 Fahrtkilometer. Zu Hause erwarten uns die Familien und Freunde, wir erleben Freude und Trauer, hautnah und persönlich. Wir sind winziger Teil einer Welt, in der sich das alles wiederholt, immer wieder und überall.
Doch die hinter uns liegenden Tage haben uns neu Hoffnung gegeben, dass unser Leben und Tun nicht ein wildes Gestikulieren auf dem nun mal auch von uns bewohnten Planeten Erde ist. Die Erfahrungen der letzten Tage zeugen von dem Getragensein und dem Geführtwerden. Sie sprechen von aufkeimender Hoffnung, auch mitten im Elend, Alleinsein und Ängsten. Dieses Erleben macht uns Mut, auch in unseren Stunden des Niedergeschlagenseins aufzusehen und festzuhalten an der uns angebotenen Hoffnung.
Das haben uns die Tage in Rumänien mit ihren Plänen, Begegnungen und dem Erlebten gelehrt. Das, was wir planten und taten war auch uns Geschenk und längst vorbereitet, bis ins Detail konnten wir es verfolgen und erkennen. Die große Unterstützung unserer Arbeit von nah und fern stärkt uns, die uns angetragene Verantwortung würdig zu übernehmen und ebenso damit umzugehen. Die Vielzahl der Spenden, sowohl als Sachen wie als Geld, ließen uns in der Planung wieder auf einen LKW zurückgreifen, der eine Vielzahl der Güter transportierte. Schon Anfang April gingen 23 Kubikmeter Ladung auf die Reise. Kleidung, Schuhe, Fahrräder, Möbel, Farbe, Badewannen, Kartoffeln, Mehl und manches mehr wurde verladen und losgeschickt. Die guten Erfahrungen der letzten Jahre mit der Spedition haben sich wieder neu bestätigt.
Am 11. Mai war es dann soweit. Lebensmittel, Milchpulver, Medikamente, ein Kopiergerät, Hygieneartikel sind geladen und die letzten Osterhasen bruch- und wärmesicher verpackt. Pünktlich um 2.00 Uhr morgens startet der Transporter mit fünf Personen aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg. Neben allen Materialien im Rücken liegen vor uns Projekte und Aufgaben, die mit finanzieller Unterstützung zu realisieren sind und auch dafür ist gesorgt, dank des bundesweiten Freundeskreises. Grüße aus Tabarz und Umgebung, aus unseren Gemeinden und darüber hinaus belasten das Auto nicht allzu sehr, sind aber ebenso im Gepäck, wie alle liebevoll zusammen getragenen Sachspenden. Das Auto ächzt über die Dörfer, bis es endlich die Autobahn erreicht. Dort ist ihm und uns wohler, geht es doch von nun an immer nur geradeaus in Richtung Osten, der Sonne entgegen. Mit jedem Kilometer wächst die Freude, unterwegs zu sein. Getragen von Gebeten und den Wünschen, erwartet von den Freunden, die sich – nicht nur wegen der Ladung – auf uns freuen. Regensburg – Passau – Wien – Budapest – Szeged – und zu unserer Überraschung, bis nach Mako, kurz vor der rumänischen Grenze, Autobahn.
Die rumänischen Grenzbeamten winken uns freundlich durch und nach schon 13 Stunden erreichen wir am Nachmittag Temeswar. Die letzten Straßen dort sind ziemlich eng, aber wir finden gleich einen Parkplatz; froh darüber, dass auch das Auto gut durchgehalten hat. Familie Kovacs begrüßt uns im Pfarrhaus. Schnell findet jeder seinen Platz im Gästezimmer. Alles ist vorbereitet, wie immer - auch der Willkommenstrunk, eisgekühlt wird er uns gereicht. Nach kurzer Planung der nächsten Tage entlasten wir das Auto. Alles das, was hier bleibt kommt an seinen Platz. Der Rest wird im Gemeinderaum sortiert und bleibt dort bis zur Abfahrt, denn wir werden das Auto noch einige Male brauchen. Die Stadt lebt am Nachmittag genau wie die Städte bei uns. Die Geschäfte allerdings sind fast leer. Die meisten Leute gehen zum Markt, wo sie frische, meist einheimische Waren auf Tische gestapelt, finden. Es ist etwas preiswerter als im Geschäft. In der Lebensmittelabteilung im Untergeschoss des großen Bega-Kaufhauses sind wir fast allein. Die Verkäuferinnen beschäftigen sich mit sich selber, die Regale sind gefüllt, meist mit uns bekannten Marken. Wir besorgen uns rumänische Telefonkarten und genießen es, da zu sein.
Am nächsten Morgen teilen wir uns. Während ein Teil der Gruppe die bescheidene Flora der Temeswarer Parks zu bestaunen versucht, begeben wir uns auf den Weg in das gut zwei Autostunden entfernte Städtchen Ineu. Einige große LKWs begegnen uns, die die Baustellen der zukünftigen Rumänien-Autobahn Richtung Sibiu beliefern. Pfarrer Kovacs, eigentlich ein Mann des Glaubens, hegt Zweifel, dass sie noch zu seinen Lebzeiten befahrbar sei. In Ineu erwartet uns eine Gruppe von Fachleuten aus dem Sozialbereich. Ein mit ihnen erstelltes Sozialprojekt für das Dorf Balanu ist detailliert zu diskutieren, Verantwortlichkeiten werden übertragen. Das Projekt, genehmigt und finanziert von der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland und der Aktion Hoffnung für Osteuropa, soll die soziale Lage der Bewohner von Balanu wissenschaftlich erfassen. Darauf aufbauend, entwirft das Team Hilfspläne für Familien oder Einzelpersonen, die auf das Ziel der Eigenverantwortung durch Bildung, Qualifizierung und möglicher Integration in Arbeitsverhältnisse ausgerichtet sind. Das besprechen wir und verteilen die einzelnen Aufgaben eindeutig. Allen ist klar, dass wir mehr brauchen als ein abzurechnendes, wohl formuliertes Papier. Für kommenden Dienstag wird ein Arbeitstreffen in Balanu vereinbart und im Juni soll mit der Arbeit begonnen werden. Wir sind uns einig und können uns nach zwei Stunden verabschieden.
Die Sonne meint es gut mit uns und wer die kurze Hose vergessen hat, muss entsprechend schwitzen. In Lipova halten wir für einen Stadtbesuch. Die große Wallfahrtskirche Maria Radna lädt zu einem kurzen Aufenthalt ein. Wir hören von ihrer Historie, Baugerüste kündigen bevorstehende Renovierungsarbeiten an. Im Stadtzentrum finden wir den Bau eines alten türkischen Basars, unter dessen Arkaden wir einen Kaffee trinken, die beiden Langosch-Kioske sind leider geschlossen. Das krumme Pflaster und die sengende Sonne zehren an unseren Kräften. Abseits der Stadt finden wir eine bekannte mineralhaltige Quelle. Der Genuss des Wassers fördert das Wohlbefinden nicht wesentlich, es schmeckt nach Eisen und anderen eigenartigen Substanzen. Temeswar nähert sich. Nach einer Pause besichtigen wir die neu restaurierte Bastion. Ab und zu tut sich etwas, mindestens im Zentrum.
Der nächste Tag bringt uns nach Jimbolia in das kleine Kinderheim. Piroska, die Leiterin, hat viele Nächte nur wenig geschlafen. Auflagen und Kontrollen bedrohen die Existenz der Einrichtung massiv. Wo die zwanzig Kinder zwischen 2 und 18 Jahren dann untergebracht werden sollen, wird nicht gesagt. Sie haben mit kleinen Renovierungsarbeiten begonnen, doch die Auflagen drücken. Möbel fehlen und Geld für Sanierungen. Nach einem Schritt nach vorn scheinen sie zwei zurück zu rutschen. Wir versprechen aus Balanu Tische, Stühle, eine Eckbank und Farbe zu schicken. Schuhe für alle, kleine Tische, einen Kopierer, Mehl und Süßigkeiten für die Kinder lassen wir jetzt hier. Die Freude ist groß. Der Vorfall mit der kleinen Anamaria vom Herbst bewegt uns alle und macht traurig. Wieder entschuldigt sich Piroska. Sie hatte noch Kontakt mit der neuen Lehrerin. Leider sind es nur Nachrichten, wie wir sie vermutet hatten. Auch zur Kirchgemeinde ist der Kontakt abgerissen. Niemand aus der Familie lässt sich bewegen, um für das Mädchen etwas zu tun, das wirklich förderlich wäre. Die vorbereiteten Dinge wird eine andere Familie bekommen. Der Vorfall zwingt zum Nachdenken über Hilfestellungen. Wenn durch Hilfe nicht der Mut zu eigenem Tun und Denken wächst, sondern lediglich Erwartungen reifen, müssen wir unser Engagement überprüfen. Ziehen wir nicht Konsequenzen und befriedigen lediglich besagte Erwartungen, so erziehen wir die Menschen zur Armut und machen sie abhängig. An dieser Stelle haben wir andere Ansprüche und möchten, dass die uns anvertrauten Spenden und Güter anderes bewirken. Sie sollen helfend zum Leben ermutigen. Deshalb gibt es eben auch Begegnungen, wie die von Anamaria und ihrer Familie, die wir erst einmal ruhen lassen müssen. Die Kinder im Heim schwitzen nach dem Fußballspiel mit einigen von uns und wir verabschieden uns. Die nächste Zeit wird schwer für Piroska, sie werden mit weiteren Hürden kämpfen müssen. Ein wenig konnten wir helfen.
Vor einem halben Jahr hörten wir von einem Mädchen, dass dringend Katheter benötigt. Aus einer Erfurter Arztpraxis hatten wir genau ihre Größe im Gepäck, ohne es beim Packen gewusst zu haben. Sie hat uns um einen Besuch gebeten. Wir wissen, dass sie ab der Hüfte bis zu den Zehen kein Gefühl mehr hat. Was wird uns begegnen? Sie wohnt in einem Block. Wir klingeln und der Summer gibt die Tür frei. Im ersten Stock schaut uns um die Tür herum ein freundliches Gesicht lächelnd entgegen und bittet uns herein. Wir spüren, dass wir erwartet wurden. Anna ist zwanzig Jahre jung. Sie erzählt, dass sie mit der Krankheit seit zehn Jahren kämpft. Damals hatten ihr die Ärzte aufgrund eines Tumors jede Überlebenschance abgesprochen. Doch die Mutter ließ nicht locker, sie selbst auch nicht. Schwierige Operationen, Reha-Maßnahmen und weitere Krankenhausaufenthalte haben sie zwar zwei Jahre Schulzeit gekostet, doch nicht das Leben. Mit der Tochter der Pfarrsekretärin geht sie zur Schule und besucht die elfte Klasse im Lyzeum. Beide sind befreundet und helfen sich, insbesondere wenn sie Zeiten durchlebt, die den Schulbesuch unmöglich machen und sie im Bett bleiben muss. Mit ihrem Bruder, der momentan noch studiert, bewohnt sie die Blockwohnung, die Mutter arbeitet in Brasov, 600 Kilometer entfernt. Sie suchen nach einer neuen Wohnung, denn die Kosten sind nicht mehr zu bewältigen. Wenn sie so frei und offen erzählt, ahnt niemand etwas von ihren Problemen. Sie geht in die Küche und bringt selbstgebackenen Kuchen. Man merkt, dass sie beim Gehen sehr eingeschränkt ist durch das ausgebliebene Gefühl. Selber kann sie wegen einer Laktoseunverträglichkeit nichts essen. Diese erfordert strengste Diät, die ebenfalls bezahlt werden muss. Sie hat große Pläne für die Zukunft und will studieren. Aus ihrem Gesicht sprüht einfach Leben und Zuversicht. Schwierig sind die Zeiten in denen sie nicht nach draußen kann. Wir verabschieden uns und wissen, dass wir bald wieder da sein werden.
Wir fahren zur Metro und besorgen einen guten Hometrainer zum Fahrradfahren. Im Schweiße seines Angesichtes repariert ihn der Verkäufer noch, es war der letzte in der Preisklasse. Bald stehen wir wieder vor der Wohnung. Anna weiß nicht, ob sie sich auf Ungarisch oder Rumänisch bedanken soll, alle Worte purzeln durcheinander. Sie hatte ein altes, rostiges Gerät, doch rutschten ihre Füße immer von den Pedalen und es war nichts zum Einstellen daran. Bald sitzt sie drauf und los geht die Reise. Die Freude darüber steht ihr ins Gesicht geschrieben. Für uns geht die Reise nach Hause ins Pfarrhaus.
Bei Eva Kovacs werden wir am Samstag sehnlich erwartet. Sie wird bald 80 und hat mit ihrer Behinderung durch Kinderlähmung immer mehr zu kämpfen. Sie zeigt uns, wie sie sich nur noch mühsam um den runden Tisch schleppt. Kein Stuhl darf angefasst werden, denn er könnte nicht mehr haargenau am selben Platz stehen. Der letzte Sturz im Zimmer hat sie mehr als unsicher gemacht. Eines ihrer größten Probleme ist schnell gelöst, denn wir bezahlen die Pflichtversicherung gegen Erdbeben und Hochwasser für ihre Wohnung im 3. Stock. Andere Sorgen können wir uns nur anhören. Sie freut sich über einige Lebensmittel und Vitamintabletten.
Nach dem Besuch beginnt unser Urlaubstag, wir fahren mit der Familie des Pfarrers an den Fluss Timis zum Grillen. Wieder meint es die Sonne ausgesprochen gut mit uns, wir genießen landestypische Grillspezialitäten und lassen die Seele ein wenig baumeln. Für den Abend bekamen wir eine Einladung und fahren noch ein Stück weiter Richtung Süden. In Tormac treffen sich heute aus dem rumänischen Banat ungarische Tanzgruppen und es beginnt ein einzigartiges Spektakel. Nach dem ersten Tanz steht die Bühne unter einer Staubwolke. Ein Helfer löscht in bereitwillig mittels einer Flasche Wasser, wonach die darauf folgende Gruppe natürlich ziemlich aufpassen muss, um nicht auszurutschen. Doch was hier geboten wird, grenzt in Teilen an Artistik. Nach drei Stunden aber sind wir und andere erleichtert, frische Luft zu finden und begeben uns Richtung Temeswar. Die kühle Luft tut gut und erleichtert das Beladen des Transporters tief in der Nacht für die Weiterreise. Wir schlafen danach ausgezeichnet.
Der Sonntag beginnt nach dem Frühstück mit dem Gottesdienst, den wir wie gewohnt mitgestalten dürfen. Jahre der Freundschaft verbinden uns mit der Gemeinde und im Anschluss an den Gottesdienst wird davon in vielen Gesprächen berichtet und die Grüße werden ausgetauscht. Die Gemeinde bekommt eine Aufbesserung ihrer Kasse. Löcher gibt es da genug, weil Mieten ausstehen und vieles offen ist. Dringende Sanierungen an Turm und Fassade warten, der Putz ist in Teilen schon oft abgefallen, glücklicherweise ohne jemandem Schaden zuzufügen. Nach der schon traditionellen Sonntagssuppe geht für uns die Reise auf ausgebauten Straßen weiter nach Hunedoara zu Familie Filip.
Leider reicht die Zeit nicht zum Übernachten. Wir laden aus und sortieren. Bei Adriana, fünf Häuser weiter, ist der Tisch gedeckt. Nur mit Mühe lässt sie sich überzeugen, nicht noch einige Gänge zu servieren. Ihr Mann hat den Job als Technischer Leiter eines Transportunternehmens verloren, da das nicht mehr existiert. Er baut momentan Weihnachts- und Osterbeleuchtungen zusammen. Wie das schmerzt, weiß jeder der ihn kennt. Sein Sohn fährt jetzt auch Crossrallye und zeigt uns seine Filmaufnahmen von der Nationalmeisterschaft. Wie er in den Ford KA hineinpasst, bleibt ein Rätsel. Wir verabschieden uns. Alexandru, der Filip-Vater, begleitet uns.
Auf dem ausgedienten Schießplatz wartet Familie Varga. Alle sind herausgeputzt. Wir bringen die Lebensmittel und einige andere Sachen und versprechen noch einen Besuch mit den Dingen vom LKW. Balanu wartet, nach einer guten Stunde sind wir dort.
Zwei Maler, die sich selbständig aus Deutschland auf den Weg gemacht hatten, waren kurz vor uns eingetroffen und damit ist die Mannschaft dort komplett. Beide Fahrzeuge werden ausgeladen. Auch die Ladung des LKW sortieren wir durch. Ein Rundgang durch das Haus zeigt, dass Restarbeiten erledigt sind. Wir können nun komplettieren, was geplant ist.
Damit geht es am nächsten Morgen gleich los. Die Maler kümmern sich um das Tapezieren des Gästezimmers und um einige Decken in beiden Etagen, die noch zu streichen sind. Wir bauen im Gästebereich die Badewanne und Dusche ein. Das WC für die Besucher der Sozialküche wird fertig hergerichtet und der neue Computer zusammengebaut. Die Telefonanlage mit mehreren Apparaten im Haus braucht etwas Geduld, bewährt sich aber schon in den nächsten Tagen. Mit jedem Handgriff geht es aufwärts. Alles wird erklärt und mit den Leuten zusammen gemacht. Alexandru und Cristinas Mann Angelut weichen nicht von unserer Seite und jeder bekommt seinen Job. Die Frauen sortieren die Lebensmittel in die leeren Regale der Speisekammer ein und füllen die Reinigungsmaterialien auf. Cristinas Mutter und ihre Schwester kümmern sich um unser leibliches Wohl. Zu sehen, wie sicher sich die Frauen in der Küche bewegen macht Freude. Wir merken, dass sie wirklich angekommen sind und sich hier in einer Welt bewegen, die so anders ist als noch vor ein oder zwei Jahren. Nach dem Mittag warten die ersten Kinder, wie jeden Tag, vor dem Tor. Sie kommen in der Hoffnung, dass jemand mit ihnen spielt. Dieser Erwartung kommen wir gern nach und es findet sich immer wieder jemand für ein bis zwei Stunden.
Der Dienstag ist Versammlungstag. Pünktlich treffen die Gruppen aus Temeswar, Arad und Ineu ein. Als der Bürgermeister mit einer Delegation der Gemeinde kommt, beginnen wir mit einer ersten Runde, in der das Sozialprojekt zur Entwicklung von Basisstrukturen in Balanu erörtert wird. Die Darlegungen der einzelnen Ziele und die Vorangehensweise in konkreten Schritten bis zur Erstellung der Dokumentation mit Hilfeplänen räumen Unklarheiten aus dem Weg. Es wird deutlich, dass das Projekt sinnvoll nur in enger Zusammenarbeit mit der Gemeinde umzusetzen ist. Dazu erhalten wir die uneingeschränkte Zustimmung des Bürgermeisters. Termine werden vereinbart und klare Absprachen getroffen, der Plan steht nach zwei Stunden und wir sind mehr als zufrieden über den erreichten Konsens. Nach einer Pause und der Verabschiedung des Bürgermeisters und der Projektgruppe folgt die Jahreshauptversammlung unseres Vereins PRO-Balanu.
Im Jahresbericht hören wir von der wöchentlichen Essensversorgung von bis zu 80 Personen. Die Wintermonate bringen immer enorme Herausforderungen für viele im Dorf mit sich. Alte und Kranke, deren Zahl größer wird, können nicht bis zum Haus kommen. Ihnen trägt dann jemand das Essen nach Hause. Viele von denen, die in der übrigen Jahreszeit als Tagelöhner unterwegs sind, finden dann nichts. Nur wer von den jüngeren Männern richtig bei Kräften ist, hat manchmal die Chance, im Wald für Privatpersonen für einige Tage einen Job zu finden. Wir hören von den Vorbereitungen der Weihnachtsfeiertage, den Nikolausbesuchen in den Häusern und den Weihnachtsfeiern im neuen Haus, wo man sich selbst im Winter ohne Jacke aufhalten kann. Seniorennachmittage, Hausaufgaben, Spielstunden und mehr erwecken das Haus zum Leben und bieten Raum unter normalen Bedingungen, von denen die meisten zu Hause nur wenig spüren. Es sind die Menschen dort, die die geschaffenen Möglichkeiten nutzen. Mit ihrem Vorangehen sind sie, bewusst oder unbewusst, zur Stütze für das Dorf gewachsen. Nach Kräften starten sie Aktionen und gehen so in vielen kleinen Schritten voran. Es gleicht einer Bergwanderung, deren Hänge sich mal bequemer zeigen, gleich darauf aber sofort wieder als gefährlich steil erweisen.
Ein Teil unserer Gruppe bricht in den nächsten Tagen zu zwei Ausflügen in die dortigen Berge auf. Es dauert nicht lange, bis die Höhen und Gipfel von fern zu sehen sind. Aber um zu ihnen zu gelangen ist der Weg steinig, oft nicht mehr zu erkennen. Wasser werden über- oder durchquert, es ist rutschig. Dann weicht die Dunkelheit des Waldes und gibt der Sonne und Wärme Raum. Unterwegs erkundigt man sich nach dem richtigen Weg. Man nimmt die Ratschläge ernst und geht weiter voran. Die Gipfel kommen näher. Man hilft sich über die Bäche und wartet aufeinander. Man holt Luft und weiter geht es bis zum Lacul Bucura, dem See der Freude. Wie gleicht eine solche Wanderung doch dem Leben der Bewohner von Balanu. Wer das Geschehen und Leben in Balanu seit einigen Jahren mit offenen Augen und Herzen verfolgt hat, kann das regelrecht beobachten.
Unsere Versammlung wird beendet und wir sind dankbar, einen solchen guten Weg gemeinsam gehen zu dürfen. In der Zwischenzeit ist der geborgte Transporter aus Temeswar mit Tischen, Stühlen und anderen Dingen für die Gemeinde und für das Kinderheim in Jimbolia geladen. Pastor Kovacs, dessen Geburtstag heute ist, und Mihaela, die Sozialpädagogin, fahren zurück. Beide sind zuverlässige Partner und ein weiterer Besuch in Balanu ist für die nächsten Wochen verabredet, um bei einigen Vereinsformalitäten zu beraten. Wir begutachten alles, was die anderen währenddessen erledigt haben. Die Maler kommen gut voran. Immer wieder steht jemand am Tor, Sauger für die Babys, die ohne nicht schlafen können, zwei Tabletten, eine Kerze… Wir suchen in unseren Kartons, denn die Vorräte sind aufgebraucht. Mit der Herausgabe von Milchpulver wartet Cristina noch, weil sie weiß, dass nach der ersten Tüte gleich zehn Mütter am Tor stehen, sie braucht dazu mehr Ruhe. Zurzeit steht sie in den Abschlussprüfungen für die 10. Klasse. Einige sind geschrieben, weitere folgen. Zwischendurch ist sie immer Mal eine Stunde nicht zu finden, wir wissen, dass sie dann versucht zu lernen.
Ihre Mutter wirbelt durch die Küche. Gleich nach unserer Ankunft hatten wir ihr versprochen, nicht eher nach Hause zu fahren, bis sie das Fahrradfahren gelernt hat. Alle meinten, dass wir wohl mindestens vier Wochen bleiben müssten. Doch der Termin für die Fahrprüfung ist dann für spätestens Freitag festgelegt worden. Zwei Fahrlehrer wurden benannt und nach einigen Tagen ging das schon recht gut und allein. Für sie ist das wichtig, da ihre kranke Schwägerin im Nachbarort oft besucht und mit Essen versorgt werden muss. Sie freute sich nach anfänglichem Zögern doch sehr und sah den Zweck der „Zwangsmaßnahme“ auch ein. Der Regen verschafft ihr immer wieder eine Pause in den Fahrstunden, aber am Donnerstag war die Prüfung bestanden.
Einkäufe in Hateg und ein kurzer Schulbesuch in der Schule in Hunedoara werden am nächsten Vormittag eingeschoben. Insbesondere den Schulbesuch dort hatten wir versprochen. Insgesamt 25 Grundschul- und Kindergartenkinder sind es, einige fehlen auch dieses Mal. Die Ostergeschichte wird aufgegriffen. Die Kinder werden auch hier gut darüber informiert. Cristina begleitet uns und wir stellen sie als „Mutter“ von 70 Kindern vor. Die Kleinen staunen und sie erzählt von den Kindern aus Balanu. Gefüllte Edekatüten sind eine Freude für jeden. Die Lehrerin entschuldigt sich, weil sie keinen Kaffee vorbereitet hat, sie wussten nicht, dass wir heute kommen. Den Kaffee gibt es bei Familie Filip und nach einem zweiten Kurzbesuch mit Kleidung und Schuhen bei Vargas geht es nach Balanu zurück. Auf dem Boden sind Schränke für Lagermöglichkeiten zu montieren und andere Dinge zu sortieren.
Erst nach Tagen finden wir endlich Zeit für eine Runde durch das Dorf. Die neue Straße ist immer wieder eine große Erleichterung für alle. Man geht, ohne bei jedem Schritt den Weg beobachten zu müssen. Die meisten der Hütten stehen noch und die Hunde versuchen jeden, der sich ihrem Revier nähert, mit lautem Gebell und Zähnefletschen zu vertreiben. Respekt zu zeigen tut gut. Am Ende des unteren Weges ist eine Müllhalde entstanden. Wir fragen nach. Der Bürgermeister schickt in Abständen Arbeiter vorbei, die für die Sozialhilfe einige Stunden leisten müssen, um den Müll an Ort und Stelle zu verbrennen. Ihm fehlen nach seinen Angaben die Mittel, den Müll regelmäßig abfahren zu lassen. Keine zwanzig Meter entfernt hören wir Säge und Hammer.
Eine junge Familie lebt unmittelbar neben diesem Platz in einer Bude aus Hartfaserplatten. Der Mann ist am Bauen, wir kommen ins Gespräch. Die Mutter mit den zwei kleinen Kindern, eines erst wenige Monate alt, kommt auch heraus. Wir kennen sie, aber sie sind sehr schüchtern. Aus Abbruchholz will der junge Vater für die Familie ein kleines Häuschen als Lagerraum bauen. Vier etwas dickere Bretter als Fundament auf den reichlich vorhandenen großen Flusskieseln, es geht unkompliziert und schnell. Sie erzählen von den Krankheiten, insbesondere bei den Kindern. Ungeziefer durch den Müllplatz, der Rauch beim Verbrennen der immer plastikhaltigen Berge, organisiert durch die Administration, das alles hinterlässt Spuren. Man sieht ihnen die Mangelerscheinungen nicht nur an der Behausung an. Der Wohnplatz ist durch die Gemeinde zugewiesen und die Hütte auch von dort „gesponsert“ worden, da sie als „sozialbedürftig“ eingestuft sind. Der Bauplatz wurde ihnen vor wenigen Jahren aus dem Berg herausgebaggert, fast direkt daran steht die Hütte. Beispielhaft für ihr Leben steht nun dieser mehrere Meter hohe und unbefestigte Hang über ihnen und droht beim nächsten größeren Regen alles zu verschütten. Sie haben als EU-Bürger noch einen schwierigen Weg vor sich. Nicht nur das Haus befindet sich an einem Hang, der den Gang in die Gesellschaft nur auf Umwegen freigibt. Wir verabschieden uns und gehen durch das Dorf zurück.
Es ist fast dunkel, aber wir sehen richtig, wenn wir feststellen, dass doch so manche alte Hütte verschwunden ist oder neben ihnen kleine Häuser heranwachsen. Das Dorf hat sich merklich verändert. Diejenigen, die im Sommer im Ausland als Erntehelfer arbeiten, investieren in neue Häuser. Es bewegt uns und zeugt von Entwicklungen, von denen wir noch vor Jahren nur träumten. Immer wieder ergeben sich Gespräche im Dorf und wir sagen, wie wir uns über die Baumaßnahmen freuen. Mit Stolz zeigen sie uns, was sie geschafft haben und hoffen, es fertig zu bekommen, irgendwann. Für uns sind solche Starts das Wichtigste. In den Köpfen hat ein Denkprozess eingesetzt, der sich von Hoffnungslosigkeit und Tristesse verabschiedet hat. Vielleicht gab unser Haus am Dorfeingang dazu manchen Anstoß.
Cristinas Bruder Bujor hatte uns gebeten, seine Elektroanlage weiter auszubauen, nachdem die Küche nun fertig ist und das Bad in diesem Jahr noch entstehen soll. In den nächsten Tagen ist der Wunsch erfüllt und er ist darüber dankbar und glücklich.
In Cristinas Speisekammer ist noch ein kleines Fenster zur besseren Belüftung einzubauen. In der Stadt haben wir es günstig bekommen, Angelut schneidet das Loch mit der Kettensäge ziemlich passgenau an die entsprechende Stelle in die Gasbetonwand. Vier Schrauben, Schaum und Fensterbrett, es dauert nicht lange.
Jedoch lange genug erwarten die Kinder den Besuch in der Schule und im Kindergarten, täglich fragen sie. Ein Teil der Gruppe macht sich auf den Weg. Spielzeuge und Schulmaterialien geschultert, wird das Gebäude am höchsten Punkt des Dorfes erreicht. Cristinas Tochter sitzt mit beiden Cousinen nun auch an den Tischen der ersten Klasse, alle drei gehen gern dort hin. Der Lehrer präsentiert stolz die Lehrinhalte und spart nicht mit Ermahnungen bezüglich fehlender Kinder. Über die Gründe dazu spricht er nicht. Im Kindergarten haben die Kleinen ein Büfett angerichtet und wir werden zu Plastikbraten und Gummiobst eingeladen. Die Dinge entstammen den Kartons der letzten Fahrten und wir spielen gern mit. Sie singen uns ein Lied und sagen Gedichte auf, ahnend dass der Karton vom „iepuras“, dem Osterhasen, noch geöffnet wird.
Am Nachmittag sind einige Senioren zum Essen eingeladen. Ihnen fällt das Gehen sehr schwer und Victoria, die kleine Taubstumme, braucht für die zweihundert Meter fast eine Stunde. Vidu muss abgeholt werden, nach dem Schlaganfall kann er kaum noch allein laufen und hat Angst zu stürzen. Einige Kinder werden noch hereingeholt und zwischen den Alten platziert. Das macht die Runde locker und heiter. Sie sind es so schon gewohnt und genießen das Essen. Es ist für sie das Wichtigste, hier etwas zu bekommen, was sie sich selbst nicht leisten können. Eine Suppe, erst die dünne, dann eine etwas kräftigere mit Reis, Gemüse und Würstchen, dazu Saft und danach etwas Gebäck. Wir genießen die Stunde zusammen mit ihnen.
Nach der Verabschiedung wird, lang ersehnt, das Gästezimmer eingeräumt. Die Malerarbeiten sind abgeschlossen und man fühlt sich hier einfach nur wohl. Mit dem dazugehörigen Bad bietet es zwei Personen mit einem Kind einen Standard, der sich in allem mit dem Unsrigen messen lässt. Die Region des Biosphärenreservates, die Gebirge und Seen laden zum Wandern oder zur Erkundung des Landes ein.
Wir besuchen noch eine Familie mit sechs Kindern. Bei ihnen hat sich in den letzten Jahren nichts verändert, jedenfalls nicht nach vorn. Während die Mutter oft als Tagelöhnerin unterwegs ist, passen die Geschwister abwechselnd auf die Kleinen auf. Heute ist sie zu Hause. Das eine Zimmer, in dem sie leben, ist stockdunkel. Wir unterhalten uns und erklären das Sozialprojekt, das wie für jede andere Familie, auch für sie Ergebnisse bringen soll. Wir brauchen aber die Zusammenarbeit mit den Eltern und dazu wird die Mutter gern bereit sein. Uns stockt im Zimmer der Atem. Aber wir erinnern uns an Besuche aus früheren Jahren im Dorf. Es hat sich was getan und so wollen wir auch hier zuversichtlich sein, dass kleine Schritte ermöglicht werden.
An diesem letzten Abend kaufen wir einigen Frauen im Dorf die für uns gefertigten Körbe ab. Wir hören von ihren Krankheiten, manchem haben die Ärzte nur noch kurze Zeit gegeben, bessere Behandlungen sind nicht bezahlbar. Die Frauen freuen sich über das Geld und wir über die Körbe, die wir in Deutschland weitergeben möchten.
Vieles ist in diesen Tagen noch passiert. Die Kassen für den Außenputz des Hauses, für die Küche und die Schulbrote, für Internats- und Fahrkosten, für medizinische Behandlungen und mehr sind aufgefüllt. Cristina bekam den Computer und dazu einige Dinge erklärt. Der Medizinschrank ist aufgefüllt mit Erkältungsmitteln und spezielle Medikamente sind verteilt. Der letzte Abend bringt uns noch eine Stunde oder zwei in aller Ruhe auf dem Balkon zusammen mit Cristina und Angelut. Nochmals besprechen wir die zu bauende Dachkonstruktion auf dem Haus der Schwester. Bisher stand für uns da immer ein Bett zum Schlafen bereit. Dieses Mal waren die Balken über dem Kopfende zu sehen und das Dach droht einzufallen, weil das Holz sich in Staub auflöst. Wir rechnen und können finanziell helfen, dass alles wieder in Ordnung kommt. Über Jahre hinweg konnten wir das Haus und Bad dort mit nutzen und es beherbergte die erste kleine Dorfküche.
Der nächste Tag bringt die Abreise. Ob der Plan erfüllt ist? Sicher nicht bis zum letzten Punkt, aber eben so gut wir konnten. Uns werden viele Dankesgrüße mit auf den Weg gegeben. Noch 17 Kilometer begleiten uns Cristina, ihr Mann und Alexandru. Sie haben von Menschen gehört, die dort ziemlich arm leben. Im Ort Bautar biegen wir von der Straße nach links ab und der Weg wird ziemlich schmal für die Autos. Wir quälen sie den Hang hinauf und finden einen Parkplatz. Die Bewohner aus den sieben Häusern sind schnell versammelt. Einige waren zu Besuch in Balanu und daher kennen sie sich. Wir sehen uns um und beraten kurz. Ein Junge, der bei den Großeltern lebt und auf einem Brett mit etwas Schaumgummi schlafen muss, bekommt ein Bett aus Balanu, das verabreden wir und mit Kleidung und Schuhen kann erst einmal geholfen werden. Nach einer Stunde brechen wir auf. Dass Cristina hier schon wieder an andere denkt und mit uns überlegt, wie sinnvoll etwas getan werden kann, freut uns. Wir sind Richtung Temeswar unterwegs. Der letzte Abend endet mit Erzählen und Nachdenken.
An diesem Abend, wie auch auf der Fahrt Richtung Deutschland denken wir an die Vielen, denen wir schon über Jahre hin begegnet sind. Oft gleicht ihr Leben einer solchen Wanderung einem Hang hinauf. Die meisten geben nicht auf und kämpfen sich hoch, gleich welchen Alters. Vor Jahren hießen ihre Gipfel noch: Überleben, Existenzminimum oder Lebensmut. Heute heißen sie: Bildung, Arbeitsplatz, medizinische Grundversorgung und Selbstbewusstsein. Ein gutes Stück sind einige von ihnen schon vorangekommen. Wir fragen uns selbst nach unseren Aufgaben auf diesem Weg mit ihnen. Schieben und Drängeln hindert am selbständigen Gehen und macht bestimmt keine Freude. Ihnen bei schwierigen Etappen die Hand zu reichen, das hilft und lässt sie nach oben sehen. Manchmal ist es vielleicht nur eine Vorsichtsmaßnahme, manchmal bewahrt es vor einem Absturz.
Weil wir uns selber von größerer Hand geführt, gehalten und getragen wissen, wollen wir das niemandem verwehren. Wo es möglich ist, wollen wir unsere Hände anderen entgegenstrecken, leer müssen sie sein und unverkrampft, um ergriffen werden zu können. Wir fahren nach Hause. Unsere Autos sind auch fast leer. Uns aber erfüllt die Dankbarkeit in überfließendem Maß, die hinter uns liegenden Tage erlebt haben zu dürfen. Wir haben dieses Getragensein und Geführtwerden auf einem Weg neu erlebt, der für viele, denen wir begegnet sind, hoffnungsvolle Ausblicke bietet. Dem, der uns zusammengeführt und die Pläne erarbeitet hat und überwacht, der ihre Gebete erhört hat, IHM danken sie. Und sie danken Ihnen allen, die dazu beigetragen haben und dazu beitragen, dass ihr Leben nicht hoffnungslos nur existiert, sondern sich füllt mit Mut und Zuversicht und einem Lächeln. Ihnen allen, die Sie mit unterwegs sind und uns selber auch die Hand reichen auf unserem Weg, den Hang hinauf zum Ziel, danken wir von Herzen.