November 2001 - Grüße aus Rumänien
Das Erntedankfest feierten wir schon vor einigen Wochen. Immer wieder wurden wir gefragt: „Ihr fahrt wohl dieses Jahr gar nicht?“ Und gerade diese Fragen machten uns als Mitglieder des Arbeitskreises deutlich, dass viele Menschen unserer Umgebung an den Aktionen persönlich interessiert sind und etwas dazu tun wollen. Der Grund für die etwas spätere Reise, zu der wir zu viert am 31. Oktober mit zwei Fahrzeugen starteten, war die Einladung des Pastors unserer Partnergemeinde zu seiner offiziellen Einführung in den Dienst der Evangelischen Kirchgemeinde in Temeswar.
Nach dem feierlichen Gottesdienst am 2. November werden wir in der Schar der Gäste willkommen geheißen. Für ihn, für die Gemeinde und für uns bedeutet es eine große Freude, diesen Tag (und die Nacht) gemeinsam erleben zu können. Eine große, von einer bayerischen Firma gespendete Altarkerze, in liebevoller Handarbeit in Neudietendorf verziert, zwei Leuchterkerzen aus Erfurt und einen vom Martin-Luther-Bund zu diesem Anlass gestifteten Talar überreichen wir dem Pfarrer nach der offiziellen Feierlichkeit mit einem Grußwort. Herzliche Grüße für alle Freunde, Bekannten, Helfer und Gemeindeglieder weiter zu sagen, trägt er uns von dieser Stelle aus auf.
Nach dem alle bewegenden Gottesdienst in der von der Küsterin tagelang geschmückten Kirche wurde für die Gäste eine Feierlichkeit vorbereitet. Es ist eine Feier, wie man sie sich nur vorstellen kann. Neben Greußener Salami, Neudietendorfer Käse, Erfurter Oliven und Reis werden einheimische Gerichte bis zum Morgengrauen gereicht. Zur erforderlichen Verdauung sorgen der allen, die schon einmal mit dort gewesen sind, wohlbekannte Palinca (ein Pflaumen“extrakt“) und hausgemachter Rotwein. Damit es zu keiner Zeit jemandem an irgendetwas mangelt, sind die Jugendlichen, die uns im Sommer in Deutschland besuchten, zum Bewirten eingeteilt. Bis ungefähr halb drei frühmorgens gehen sie dem mit hohem Engagement nach. Eine kleine Kapelle sorgt für eine Stimmung, mit der die Gäste noch den nächsten Morgen begrüßen. So feiert eine Gemeinde, der Pastor mit seinen Freunden und Vorgesetzten, Vertreter aller Kirchen der Stadt und Umgebung ein Fest, was sicher auch nicht jedes Jahr gefeiert wird. Und wir finden uns mittendrin, lernen viele Leute auch in Gesprächen näher kennen, erleben ungarisch-rumänische Freundlichkeit und Gastfreundschaft und fühlen uns einfach wohl. Die mitgebrachten Erntedankgaben werden am nächsten Tag sortiert und zur Verteilung an Bedürftige den Presbytern übergeben. Ebenso das Geld für die Sekretärin und noch ein weiterer Betrag für die Arbeit der Kirchgemeinde.
Die seit einiger Zeit im Bau befindliche Arztstube ist nun auch fertig gestellt. Ein Gespräch mit dem Arzt, der hier seine Arbeit in Kürze beginnen wird, zeigt, wie wichtig das für die Gemeinde ist. Nicht nur, weil hier den Menschen medizinisch sehr kostengünstig geholfen werden kann, sondern weil sie selbst zur Hilfe fähig sind. Es ist ein Beispiel, wie aus sicher wichtigen „Hilfstransporten“ Partnerschaften wachsen, die die Möglichkeiten zur Selbsthilfe mit ankurbeln. Allen, die das bisher unterstützt haben, sollen wir danken und sie herzlich grüßen.
Am Montag starten wir nach Hunedoara. Gutes Wetter lässt diese Fahrt auch wieder zu einem Erlebnis werden. Am bekannten Haltepunkt auf halber Fahrtstrecke genießen wir die Aussicht auf das Retezatgebirge im Süden. Für die Rückfahrt ist dorthin ein Abstecher geplant, der uns noch weiter beschäftigen wird. An unseren Haltepunkt stehen wir einfach in der freien Natur und genießen die herrliche Landschaft und eine Banane oder eine Zigarette. Ein Mann steigt an der Straße aus einem Auto und geht den schmalen Weg in das drei Kilometer entfernte Dorf. Von dort ist nur ein Haus zu sehen. Zögerlich spricht er uns an und fragt, woher wir kommen. Wir erzählen miteinander, er spricht ein wenig Deutsch; wir erfahren von seinen vier Kindern und dass er einkaufen war. Als wir ihm für die Kinder einige Süßigkeiten und Plüschtiere in den Beutel packen, freut er sich sehr. Schneller geht er nun und wir können uns vorstellen, wie sich seine Kinder freuen, dass sich außer drei Rollen Toilettenpapier, ähnlich unserer Raufasertapete, und einem Brot noch etwas mehr in der Tasche befindet. Er gibt uns herzliche Grüße mit auf den Weg.
Zwei Kilometer vor dem Dorf unserer Freunde sind schon die ersten vierzehnjährigen Späher per Fahrrad unterwegs und es gelingt uns kaum, per Auto auf der Fahrt ins Dorf mitzuhalten. Herzlich ist die Begrüßung nicht nur für schon Bekannte, sondern ebenso für diejenigen, die sich nun zum ersten Mal kennen lernen. Wir fühlen uns schnell zu Hause und herzlich aufgenommen. Nach dem Ausladen des Kleinbusses fahren wir in die Stadt, um auf dem Markt einzukaufen.
Es ist immer wieder ein Erlebnis der besonderen Art für alle, die das zum ersten Mal miterleben. Kartoffeln und Äpfel für den Winter, ein wenig Knoblauch und einige Krautköpfe aus dem kaum zu überschauenden Berg derselben laden wir ein.
Der nächste Tag mit dem Schulbesuch muss noch vorbereitet werden. Salami aus Greußen, Filzstifte aus Erfurt, Süßigkeiten aus der Neudietendorfer Grund- und der Regelschule, Getränke eines heimischen Händlers, Mars-Riegel eines Erfurter Einkaufsmarktes, Schulhefte und Buntstifte aus Gotha, biblische Malhefte aus Dillenburg und Kerzen aus Deggendorf werden für jedes Kind in Beutel verpackt.
Am nächsten Tag ist die Schule um zehn Uhr nicht nur mit den Kindern der Schule und des Kindergartens gefüllt, sondern auch Eltern, Großeltern und Babys freuen sich auf den Besuch und das, was er mitgebracht hat. Wir erzählen eine Geschichte in Vorbereitung auf Weihnachten, berichten von den Kindern, die alle Süßigkeiten gepackt haben, bestellen Grüße, verteilen, fotografieren und sprechen mit Eltern und Lehrerinnen. Die Toiletten und Waschbecken sind nun räumlich abgetrennt und fertig gestellt. Stolz wird es uns gezeigt. Die noch offene Materialrechnung von dreihundert Mark können wir mit Spenden des Gymnasiums und des Ingerslebener Kindergartens auch noch begleichen. Groß sind die Augen der Kinder, die dann den Beutelinhalt erforschen. „Bis Weihnachten wird nichts angerührt, aber dann wird es an den Baum gehangen!“ sagt uns einer der Kleinen. Mit den Beuteln in den Händen winken sie und geben uns herzliche Grüße mit auf den Weg.
Auf einem Spaziergang durchs Dorf spricht uns eine ältere Dame an und bittet uns, eine Familie, die ihr sonst bei der Feldarbeit hilft, zu besuchen. Wir erkundigen uns erst bei unseren Freunden und besuchen sie mit ihnen am Abend gemeinsam. Gefährlich ist der kurze Anstieg zu der kleinen Hütte, obwohl es seit Wochen nicht geregnet hat. Da alles dunkel ist, scheint niemand zu Hause zu sein. Die letzte Straßenlampe steht auch weit hinter uns und wir sehnen uns nach einer Taschenlampe für den Rückweg, als eine Frau doch die Türe öffnet. Erkennen können wir nichts und stolpern so in die Hütte hinein. Sie besteht nur aus einem Raum. Die Decke ist aus Ästen und Zweigen geflochten und am Ende des Raumes sind im Schein einer verrosteten ehemaligen Petroleumleuchte zwei Kindergesichter zu sehen. Sie löffeln anscheinend gerade Maisbrei von einem Teller, den in unseren Breiten keiner mehr seiner Katze vorsetzen würde. Der selbst gemauerte Ofen brennt und ebenso der Qualm in unseren Augen. Die Familie hat acht Kinder, vier davon müssen in einem Kinderheim wohnen, da sie zu Hause nichts für die Schule machen können. Der Stromanschluss fehlt. Vier Liegen für die sechs Personen, zwei kleine Tische, ein Stuhl und ein alter Schrank sind das Mobiliar. Deshalb ist im Raum noch Platz für uns und wir unterhalten uns. Das Brot war alle und die Aussicht auf den Stromanschluss gleich Null, da ihnen das Grundstück nicht gehört. Dank freizügiger Ladenöffnungszeiten können wir noch einige notwendige Lebensmittel mit der Mutter einkaufen und versprechen wiederzukommen. Mit unserer Gastgeberin besprechen wir am Morgen alles und gehen noch einmal hin. Viel heller ist es in der Hütte noch nicht geworden, aber wir erkennen, dass die zwei Kleinen uns schon im Kindergarten begegnet sind. Sie malen gerade in den Heften. Auch zwei größere Schwestern treffen wir zu Hause an. Eine hat seit dem vierten Lebensjahr ein Augenleiden nach dem Verzehr eines Giftes. Eine Brille kann sie nicht bekommen, da sie in keiner Krankenversicherung registriert ist. Unsere Freunde haben uns von sich Kinderkleidung mitgegeben und eine Tasche mit Schuhen war noch in unserem Gepäck. Die Herrenslipper passen der Mutter prima und sie freut sich darüber. Mit achtzig Mark bezahlen wir erstmal das Grundstück. Im Beisein der Familie übergeben wir unseren Freunden für diese Familie so viel Geld, das es wenigstens für Brot im nächsten halben Jahr reicht. Vertrauen schließt hier eine anderweitige Verwendung aus. Gern lassen sie sich alle noch fotografieren und auch sie geben uns dankbar Grüße mit nach Hause.
Wir wollen zur Rückfahrt nach Temeswar aufbrechen. Unsere Freunde bedanken sich nochmals herzlich für alles Mitgebrachte, für die Heizkörper, das Faxgerät (damit die Briefe auch ankommen), für Kleidung und Lebensmittel, die bis weit nach Weihnachten reichen müssen und das Leben ein wenig auflockern, für den Aromatique, den Schwingschleifer und vor allem für den Besuch. Alle, die schon einmal mit waren, aber auch alle unsere Freunde und Helfer, sollen wir grüßen und ihnen danken.
Die Rückfahrt auf der südlichen Route verläuft unterhalb des Retezatgebirges. Noch am Morgen hat es geregnet, aber nun scheint, wie alle Tage zuvor, wieder die Sonne und wir machen den beabsichtigten Abstecher zur 1500 m hoch gelegenen Staumauer. Nur dreißig Kilometer von der Hauptstraße entfernt, kommen wir oben an und sehen auf die schneebedeckten Zweieinhalbtausender, die der Nebel gerade freigibt. Weit über dem Tal und vor diesen Gipfeln und der Talsperre stehend, erleben wir die natürliche Schönheit dieses Landes im hellen Sonnenlicht. Wir müssen uns schütteln, denn in unseren Köpfen steckt noch die dunkle Hütte mit der Zweigdecke und im Hals der Qualm des selbst gemauerten Ofens. Auf ihm steht sicher noch das elektrische Bügeleisen ohne Leitung und wird warm. Die Gegensätze des Landes erscheinen uns in aller Härte. Wir sind bemüht, erlebtes Geschehen einzuordnen.
Rückwärts wollen wir das letzte Dorf an dieser Straße zum Gebirge besuchen. Auf der Hinfahrt sahen wir es bereits, aber der Gedanke, dorthin zu fahren, ist ein halbes Jahr alt. Wir sind auf der letzten Reise schon vorbeigefahren. Zusammen gebundene Bäume oder Bretter stellen die Hauswände dar und die Zufahrtsstraße, oder besser der Weg ist nur schwer zu finden. Glücklicherweise passt der Kleinbus noch durch und niemand kommt uns entgegen.
Das dritte Haus erkennen wir als Gebäude der Kirchgemeinde und eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern kommt zum Auto. Wir kommen ins Gespräch und wollen einiges über das Dorf wissen. Nein, ein Deutscher war noch nicht hier und selbst andere als die Bewohner sind hier selten. Strom gibt es schon, aber ein Telefon im ganzen Ort mit den siebzig „Häusern“ nicht. Sie führt uns über den schlammigen Hof in ihr Haus aus Hartfaserplatten und erzählt, dass die vordere Hälfte kürzlich abgebrannt ist. Nur mühsam können wir uns im Raum drehen, um ein Foto mit der Familie zu machen. Da die junge Frau uns ehrlich erscheint, geben wir ihr eine Bananenkiste mit Süßigkeiten und der Bitte, den Inhalt an die Kinder des Ortes zu verteilen. Die stehen schon eine Weile an der Tür, während schätzungsweise sechzig Personen das Auto umringen. Sie bitten um Kleidung. Heute haben wir keine; wenn Gott will, so versprechen wir, haben wir in einem halben Jahr einiges mehr im Gepäck für das Dorf. Riesig war jedenfalls die Freude der jungen Mutter namens Cristina, als wir ihr für ihre Kinder einige Filzstifte und Süßigkeiten extra geben. Um die Verteilaktion haben wir sie nicht beneidet. Besonders auch sie und ihre Mutter lassen alle unsere Freunde zu Hause grüßen und beide verabschieden uns mit herzlichen Segenswünschen.
Wir machen uns wieder auf den Weg. Eine junge Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm läuft unserem Auto hinterher. Sie bittet uns um Medizin für das Kind. Lange gehen uns auch diese Bilder nach. Kein Foto kann die Eindrücke wiedergeben. Die Rückfahrt nach Temeswar hat jeder von uns gebraucht, um das alles ein wenig zu verarbeiten. „Das glaubt mir kein Mensch!“, war immer der Ausspruch eines unserer Mitreisenden. Nach dem zuletzt Gesehenen und Erlebten blieb ihm selbst dieser Satz im Halse stecken.
Auf die Frage, warum es Menschen so schlecht geht, folgt nur die Frage, warum es uns so gut geht. Vielleicht deshalb, damit wir die Chance ergreifen, etwas gegen solche Umstände zu tun. Politische Veränderungen werden wir nicht herbeiführen, Mentalitäten kippen wollen wir nicht, aber einigen Familien oder Menschen helfen, halten wir für durchaus möglich. Das haben die letzten sechs Fahrten in den drei Jahren gezeigt und wir sind froh, es sehen und erleben zu können.
Im Temeswar stehen noch Besuche bei kranken und alten Gemeindegliedern auf dem Programm. Frau Gindel, die schon seit einem Jahr ans Bett gebunden und sehr schwach geworden ist, freut sich sehr. Den Bericht von der Einführung des Pfarrers in ihrer Gemeinde hat sie im Radio verfolgt. Das Holz für den Winter kann ihr die Gemeinde nun auch bezahlen, obwohl es wieder um die Hälfte teurer geworden ist.
Der Frau Bilescu, sie ist 93, kann der Pfarrer danach ebenfalls diese Nachricht überbringen. Leider werden ihre Medikamente immer teurer. Aber sie ist froh, dass die Krankenschwester der Gemeinde ein oder zwei Mal pro Woche kommt und sie deshalb nicht so ganz allein ist. Sie kann ja nicht mehr aus dem Haus.
Dem Herrn Ernst geht es bedeutend schlechter als noch vor einem halben Jahr und er liegt viel. Seit seine Frau kürzlich verstorben ist, hat auch ihn der Lebensmut verlassen. Mit seinem Sohn lebt er jetzt zusammen in dem kleinen Haus und beide sind froh über unseren Besuch und die Grüße.
Den Besuch bei Frau Barthelf machen wir nur noch in kleinerer Runde, weil mancher von uns erstmal selbst etwas zu schlucken und zu verdauen hat. Mit 92 ist sie noch recht fit und macht ungeahnte Handarbeiten. Leider besuchen sie ihre Tochter und Enkeltochter nicht mehr: „Nu, was soll man machen? Kann ich ihnen böse sein, sie sind doch meine Kinder!“ Mit viel Witz und Liebe erzählt sie aus ihrem Leben. Sie zeigt uns riesige selbst gearbeitete Decken und Gobelins und die in Arbeit befindlichen Handschuhe für ein Zigeunermädchen, dass sie kürzlich kennen lernte.
Frau Kovacs, die seit 40 Jahren ihre Wohnung wegen Kinderlähmung nicht mehr verlassen konnte, hat schon auf unseren Besuch gewartet. Stolz zeigt sie ihrem Pfarrer die Zeitungsberichte von seiner Einführung. Sie weiß sich in der Gemeinde durch die herzliche Verbindung gut aufgehoben und betreut.
Sie alle geben uns Grüße mit nach Hause und sind dankbar für jedes gute Wort und auch für den kleinen Beutel aus Deutschland.
Am Morgen des 9. November verabschieden wir uns vom Pastor und seiner Familie. Er muss noch zu einer Taufe; der Ort liegt etwas über fünfhundert Kilometer entfernt. Mit seiner Frau sieht er uns an und beide bedanken sich für alles. „Und bitte sagt allen viele herzliche Grüße von uns - und ihr wisst ja, ihr seid jederzeit herzlich willkommen!“
Dann geht es wieder nach Hause und gut verläuft auch die Reise. Wir haben vieles neu erfahren und endlose Gegensätze kennen gelernt. Wir wissen, Not hat nicht nur Ursachen, sondern auch Namen. Neben genannten gibt es die Namen der Familie Hamzo in Racastia, und Cristina Leon im armseligen Bergdorf im Retezat, von denen wir an dieser Stelle berichtet haben. Aber es gibt auch viele Namen, die wieder mitgeholfen haben, diesen Weg zu gehen. Gerade die Namen der Helfer und Ihr Engagement machen uns Mut und geben Hoffnung, weiterzumachen. Nehmen Sie alle Grüße und auch unseren herzlichen Dank ganz persönlich an.