Oktober 2000 - Wieder zurück aus Rumänien
So wird unsere vierköpfige Gruppe mit den Hilfsgütern nicht nur mit großen Buchstaben an der Tafel in der kleinen Schule begrüßt, sondern an allen Stellen, die wir in der Zeit vom 14. - 20. Oktober aufsuchen. Mit zwei Kleinbussen machen wir uns am 13.10. um zwei Uhr morgens auf den Weg. Vor uns liegen die ca. 1250 km bis Temeswar.
Bis zum letzten Abend vor der Abreise wurden die Papiere mehrmals geändert, da neue Gesetze zum Schutz vor Drogenschmuggel auch für uns neue Hürden in den Formalitäten bedeuteten.
An der rumänischen Grenze ist die diesbezügliche Spannung für uns am größten, denn eine Kontrolle würde die unausweichliche Rückfahrt nach Deutschland bedeuten.
Mit dem Pfarrer der Kirchgemeinde treffen wir uns dort und kommen so in den Empfang eines noch dringend benötigten Originalpapiers aus Bukarest mit Nummern und den viele Türen öffnenden Stempeln. Als wir dann die Tür zum Zoll öffnen, steht vor uns ein Beamter, der uns aufgrund des Besuches einer Kirchgemeinde schon im April sehr freundlich und zuvorkommend „bearbeitet“ hat. Wir können es nicht glauben, dass wir kurz danach auf der Ledercouch seines Büros sitzen und mit ihm wie mit einem guten Freund reden. Den Gang zum Chef in der oberen Etage gehen wir mit ihm zusammen. Schnell weiß dieser zu erzählen, dass er in Thüringen Verwandte hat und das Eis ist gebrochen. Zwar dauert das Ganze seine Zeit, aber wir sind doch sicher, eine Woche lang in Rumänien das erledigen zu können, wozu wir auch gestartet waren. Wie einem in solchen Spannungsmomenten wirklich zumute ist, weiß jeder, der in solcher Situation schon einmal gewesen ist. Umso größer ist die Freude, dann in das Land problemlos einzureisen. Das „problemlos“ bezieht sich auch auf die Straßen, die deutlich besser sind als noch vor zwei Jahren und das fast überall, wo wir unterwegs sind.
Da der Binnenzoll am Samstag nicht arbeitet, wir aber die Beamten und deren „Gepflogenheiten“ schon ein wenig kennen, räumen wir die Autos bereits an diesem Tag und vor dem Papierkrieg gemeinsam mit den Konfirmanden der Gemeinde im Pfarrhaus aus. Sie sind sehr überrascht über diese „praktische“ Religionsstunde, zumal sie mit Schokolade und Cola belohnt werden. Das Modell eines Menschen mit allen inneren Organen aus der Regelschule Neudietendorf wickeln wir als Zugabe aus. Es sorgt für eine zusätzliche Überraschung. Die Bilder des letzten Transportes wollen ebenfalls alle sehen und so ergeben sich noch einige Gespräche; die anfängliche Scheu ist schnell überwunden.
Ein Grußwort im Gottesdienst am Sonntag und die anschließende Zusammenkunft mit den Gemeindekirchenräten gehören auch wieder zum Programm und für alle ist es erbaulich, sich zu treffen. Immer Neues erfahren wir aus der Gemeinde, der Arbeit der Krankenschwestern in der Altenbetreuung und nicht zuletzt aus dem Leben dieser Menschen, deren deutsche Vorfahren die Gemeinde gegründet haben. „Und wenn Sie nur ein gutes Wort für uns im Gepäck haben, sind Sie uns immer herzlich willkommen.“ So werden wir verabschiedet von Menschen, bei denen der Hunger zum täglichen Brot wird, wenn ein Arztbesuch oder die Kälte des Winters und damit die Heizkostenrechnung „dazwischen kommt“.
Herzlich war und ist die Aufnahme und grenzenlose Gastfreundschaft an allen Stellen immer wieder und groß der Aufwand für jede Mahlzeit. Wir begrüßen beim Pfarrerehepaar auch das dritte Kind, den zweiten Sohn im Alter von sechs Wochen und er tut dies auf seine Weise mit uns.
Der unvermeidliche Besuch beim Binnenzoll steht am Montag früh an. Auf die Frage nach den beladenen Autos und unsere bereitwillige Antwort, dass bereits alles ausgeräumt sei, folgte ein kurzer, aber intensiver Aufschrei der Beamtin, doch ein Blick in unsere Augen verrät ihr, dass wir keine Drogen, Waffen oder ähnliches dabei haben und uns werden die entsprechenden Papiere sehr freundlich ausgehändigt. Wir sind ehrlich dankbar für solche Möglichkeiten.
Danach folgt ein kurzer Einkauf von Obst und Gemüse auf dem Markt für die Freunde und Schulkinder und ab geht die Fahrt nach Hunedoara. Herbstlich und warm grüßen uns die bekannten Gegenden und oft auch freundlich die unbekannten Menschen zu Fuß oder vom überall anzutreffenden Pferdegespann. Ausländerfreundlichkeit, nicht gemacht oder gefordert, sondern natürlich, offen und ehrlich, überall empfinden wir das und denken dabei manches Mal an Deutschland zurück.
Vorbei an der Stadt Deva tauchen wir ein in das ehemalige Stahlkombinat. Stahl wird kaum noch oder gar nicht mehr produziert. Zurück blieb ein einziger Schrotthaufen, das Resultat der wahnwitzigen Idee des einstigen kommunistischen Diktators von der Industrialisierung des ehemaligen Agrarlandes, der Kornkammer Europas. Geblieben sind aber auch die einstmals dort Beschäftigten mit ihren meist sehr großen Familien. Zurück liegen auch die Zeiten ihrer Beschäftigung und Zeiten der Bezahlung für ihre Arbeit und für die meisten auch die 18 Monate, in denen sie das monatliche Arbeitslosengeld von 25 Mark noch bekamen.
Von unseren Gastfamilien werden wir in der schon oft erlebten und doch immer wieder neuen Herzlichkeit begrüßt. Die Freude ist auf beiden Seiten groß. Mit jedem Augenblick und Schritt spüren wir die Notwendigkeit auch dieses Besuches ohne große Worte. Für den nächsten Tag werden wir in der Schule erwartet. Einige von uns bereiten die Süßigkeitenbeutel mit der Salami und der Banane vor. Die anderen bauen die Kindertische und Regale für den Kindergarten zusammen und sortieren das Zubehör für die beiden WC.
Am Dienstag müssen wir um zehn Uhr einige Minuten vor der Schule warten, bevor uns Schüler und Lehrerin eine Schulstunde vorstellen und verkürzt abhalten. Neu ist, dass in einem Klassenraum drei Klassenstufen gleichzeitig unterrichtet werden. Sie lesen, rechnen und singen uns etliches vor, wer gerade nicht dran ist, blickt oft heimlich zu uns nach hinten, wohl wissend, dass im Auto draußen bestimmt noch einiges verborgen liegt. Wir überbringen die Grüße unserer Kindergärten und Schulen und entdecken beim Reden, dass wir schon viele kennen und sie ihre Scheu vor allem Fremden abgelegt haben. Ranzen, Federtaschen, Hefte, Stifte und Kleidung erkennen wir ebenfalls wieder, nichts ist bisher umsonst transportiert worden. Wir teilen die vorbereiteten Beutel an die Kinder aus. Eine Menge Kopfkissen aus der Grundschule Neudietendorf finden ebenfalls reißenden Absatz. Beim Rundgang sehen wir uns die Waschbecken, den Brunnenschacht und die Klärgrube an, übergeben die WC für die schon vorbereiteten Anschlüsse und wissen, dass die Kinder diese im Winter benutzen können. Damit sind für die Kinder hygienische Grundlagen entstanden, die wohl weitaus besser sind, als in den eigenen Häusern hier im Dorf Racastia. Ermöglicht wurde das alles durch die Spenden des Gymnasiums Neudietendorf und auch die noch offene Rechnung kann wieder beglichen werden. Die Wände werden nach einem Provisorium durch die dortigen Eltern noch entstehen, aber die Kälte des Winters ist erst einmal erträglicher. Beim Rundgang stellen wir erschrocken fest, dass eine Wand der alten Toiletten sich bereits um zwanzig Zentimeter vom übrigen Mauerwerk gelöst hat und wohl den Winter nicht mehr überstehen wird. Gut zu wissen, dass besser vorgesorgt ist. Nach der Verabschiedung von Kindern, Lehrerinnen und Eltern entdecken wir unterwegs neben dem Maisstroh auf dem Weg die Salamiverpackungen aus Greußen und Bananenschalen (Die Straßen werden abends gefegt!) und wir müssen schmunzeln.
Beim Einkauf von Kartoffeln und anderen Dingen am Nachmittag in der Stadt stehen wir oft nur kopfschüttelnd vor den Preisen, die oft weit über den unsrigen liegen. Wie das, als nur ein Beispiel, unsere achtköpfige Gastgeberfamilie Filip mit einem monatlichen Gesamteinkommen von siebzig Mark bewältigt, ist nicht zu ergründen und nicht zu erklären. Der monatliche Busschein in die sechs Kilometer entfernte Schule kostet 8,70 DM bei einem monatlichen Kindergeld je Kind von 6,50 DM. Für einige der Kinder beginnt der Unterricht 13 Uhr und endet 22 Uhr. Eine halbe Stunde später sind sie dann zu Hause. Bei einem Blick in die Schule für 850 Schüler werden wir freundlich vom Lehrer begrüßt. Er erzählt uns, sich fast entschuldigend, dass der gerade erteilte praktische Unterricht zur Metallbearbeitung nur theoretisch abgehalten wird, da kein Material vorhanden ist. Das begegnet uns ausgerechnet in der Stadt, die noch vor einigen Jahren ausschließlich von der Stahlproduktion gelebt hat. Höflich bedanken wir uns und gehen - vorbei an Toiletten, deren Anblick hier nicht näher beschrieben werden kann.
Wissend darum, kein System ändern zu können, freuen wir uns, an einigen Stellen ganz gezielt und konkret etwas tun zu dürfen. Dass es alles korrekt abläuft, beweisen uns gerade auch die Berge von Quittungen und Aufzeichnungen der Eltern der Schule, die so alles belegen.
Schwer und feucht ist am Mittwoch der Abschied und die Fahrt auf einer für uns neuen Strecke führt bei herrlichem Wetter an den Massiven des Retezat-Gebirges vorbei, durch die Städte Hateg, Caransebes, Resita und Bocsa zurück nach Temeswar.
Wir erleben ein neues Stück Schönheit Rumäniens und überlegen, ob diese Gipfel größer sind als die Probleme, die unsere Freunde und viele andere Menschen dort täglich zu bewältigen haben. In Temeswar besuchen wir wieder uns bekannte und auch bisher unbekannte ältere Gemeindeglieder. Gleich ist überall die Freude über alles Mitgebrachte, ob Grundnahrungsmittel, Konserven, Schokolade, Bücher, Hörgeräte oder die heiß begehrte Salami aus Greußen (100 Stück bekamen wir vom Werk geschenkt!). Die Menschen begegnen uns mit Geschichten aus ihrem Leben, die eine eigene Sprache sprechen.
Die Bewohner von Plattenbauten haben Angst vor dem Winter, weil sie die gestiegenen Heizungspreise nicht mehr bezahlen können. Viele haben sich die Heizungen schon absperren lassen. Auf die Frage, was dann wird, zeigen sie uns ihre Decken.
Einer jungen Familie mit zwei Kindern in Temeswar, der wir konkret aus einer schweren Situation durch verschiedene Einzelspenden und der des Gustav-Adolf-Werkes helfen, ist es wegen der Tränen erst nach einer ganzen Weile möglich, sich zu bedanken.
Am Donnerstagabend komplettieren wir dann das Büro der Kirchgemeinde mit neuen Regalen und einem Computertisch aus einem Erfurter Möbelhaus und lagern noch die aus Gotha und Erfurt stammenden Fliesen im zukünftigen Arztzimmer ein.
In der Küche bereiten einige Frauen schon seit Stunden das Abschiedsessen vor. Beim Essen lassen wir die zurückliegenden Tage noch einmal passieren und stellen immer wieder fest, wie schnell sie vergangen sind, leider. Überall haben wir uns sehr wohl gefühlt und leicht fällt uns der Gedanke an den bevorstehenden Abschied nicht.
Am nächsten Morgen, nach Frühstück und dem Abschiedsfoto ist es aber dann ernst und zurück geht die Fahrt. Und doch sind wir wieder ein Stück vorwärts gekommen. Reicher sind wir geworden an Erfahrungen und handgreiflichem Erleben von menschlicher Not. Auf die von uns fast überall gestellte Frage, wie es denn weitergehen soll, begegnete uns meist tiefes Gottvertrauen, eine andere Sicherheit war und ist nicht mehr da. Stärker sind wir aber auch geworden in der Gewissheit, Dinge verändern zu können, wenn sich Menschen aufmachen, sich zusammentun und miteinander beginnen loszulaufen. Wir können diejenigen, die sich in diesen Lauf eingebunden haben, nicht mehr namentlich aufzählen. Jeder soll aber wissen, dass gerade sein Teil wichtig war. Ihnen allen überbringen wir sehr gern die herzlichen Grüße und dankbaren Händedrücke derer, denen mit diesen Transporten geholfen ist.
Die Straßensammlung durch Frau Wuchold und Frau Daniel aus Neudietendorf, Kollekten der Kirchgemeinden, Erntedankgaben, das Konzert in Ingersleben durch Herrn Bosecker und Herrn Häußler, Spenden des Gustav-Adolf-Werkes, vieler Einzelner und der Schüler der Neudietendorfer Schulen, beider Kindergärten unserer Orte, die Sachspenden vieler Firmen und nicht zuletzt auch die kostenlose Überlassung eines Kleinbusses durch die JES Jugendförderkreis GmbH Erfurt haben es wieder ermöglicht, dass diese Fahrt stattfinden und die damit verbundenen Hilfen weitergeleitet werden konnten. Ihnen allen, aber auch denen, deren Gedanken und Gebete uns wirkungsvoll begleitet haben, wollen wir danken, auch in der Hoffnung, weiterhin solches tun zu können.