Oktober 2002 - Regenbogen über Balanu
Endlich war das Thema „Vorbereitungen“ abgeschlossen. Gepackt mit den Erntedankgaben unserer Kirchgemeinden und vielen anderen Dingen begaben wir, Mitglieder des Arbeitskreises Rumänien, uns am 17. Oktober wieder für zehn Tage auf die Reise.
Wissend darum, in Rumänien viele Bekannte und Freunde zu haben, die sich genau wie wir auf das Wiedersehen freuen, neue Aufgaben und Vorhaben vor Augen und mit einem Auftrag im Herzen, sitzen wir im Auto, gespannt wartend auf das Kommende. Die Route ist klar: Deutschland – Österreich –Ungarn – Rumänien. Etwas eng ist es im Kleinbus und hinter uns fünf Reisenden stapelt sich das Gepäck wieder bis an das Dach, sorgsam gepackt und jede Lücke füllend. Lebensmittel, Medikamente, Gastherme, Keyboard, Süßigkeiten, Kleidung und Schuhe, Bücher und Schulbedarf, zwei Kinderwagen mit Babyausstattungen, alles geordnet und für die einzelnen Empfänger verpackt. Nicht ganz unwesentlich auch die gefüllten Briefumschläge mit den vielen Geldspenden. Zuschüsse der Thüringer Landeskirche und der Diakonie, die Straßensammlung, Kollekten, der Erlös eines Konzertes und viele Einzelspenden aus allen Orten unserer Umgebung helfen, die geplanten Vorhaben wieder anzugehen.
Nach sechzehnstündiger Fahrt stehen wir am ersten „heißen“ Ort, der rumänischen Grenze. Die letzte Reise hat hier einiges an Nerven, Zeit und Geld gekostet. Wie wird es heute? Eine unserer Mitreisenden erzählte von einer Frau, die für uns beten wollte. Der gewohnte und immer wieder schwere Gang zum Öffnen der Autotüren für die Kontrolle folgt schon fast automatisch. „Haben Sie etwas zu verzollen?“ Ein gequetschtes „Nein, nur Geschenke für Freunde.“, folgt unsererseits. „Danke und gute Reise!“ Wir können es noch nicht fassen, es dauerte kaum fünf Minuten. Wir sagen auch „Danke!“.
In Temeswar werden wir von Familie Kovacs begrüßt. Einige Einkäufe für die nächsten Tage wechseln mit Besuchen bei alten und kranken Gemeindegliedern. Viel hören sie aus Deutschland und fragen nach, erzählen uns von sich und den Problemen, die nicht selten unter die Haut gehen, lachen und weinen mit uns. „Und kommen’s bloß wieder!“, wird uns oft gesagt. Herrn Ernst, den wir schon so oft besuchten, können wir nur noch auf dem Weg zum Friedhof begleiten. Er war gerade gestorben. Am Samstag treffen wir Dr. Iacob, den Arzt der Gemeinde, der freudig die Medikamente für die Arztstube entgegen nimmt. Im Gottesdienst am Sonntag überbringen wir die Grüße aus unseren Gemeinden. Beim anschließenden Kaffee übergeben wir dem Presbyterium wieder die 600 Euro als Jahresgehalt für die Sekretärin. Dazu ermöglichen weitere 1500 Euro eine nächste Reparatur des maroden Pfarrhausdaches. Über die Dringlichkeit der Reparatur können wir uns auf dem Dachboden nochmals überzeugen. In den darunter liegenden Zimmern schlafen wir, die Schäden an der Decke sind sichtbar. Wir sind froh, dass es nicht regnet, so ist es auch über unseren Betten trocken. Wir erzählen den Kirchenvorständen aus unseren Gemeinden und spüren die herzliche Aufnahme. Auch über die weiteren Vorhaben in Rumänien berichten wir und sind ihnen dankbar, dass sie diese „mittragen“. Am Abend ist das Auto neu zu packen und am Montag nach dem Frühstück heißt es „Drum bun!“ (Gute Fahrt) Richtung Hunedoara.
Schön ist die Fahrt und unversehrt kommen wir auch dort an, freudig in Empfang genommen. Viel Zeit bleibt nicht, aber zum Essen muss sie reichen. Auspacken, sortieren, verteilen und die Tage besprechen, danach fahren wir gleich runter in die Stadt. Der Wintervorrat an Kartoffeln, Zwiebeln und einiges mehr werden auf dem immer wieder interessanten Markt gekauft. Hier spielt sich ein großer Teil des Stadtlebens ab. Zwischen Gemüse, Obst und Gewürzen aller Art, zwischen Jacobs Krönung und in Streifen geschnittenen Paprikaschoten wählen die Menschen nur das Nötigste aus. Meist reicht eine kleine Plastiktüte für alles. Auch einen Gasherd mit allem Zubehör für die Kinderspeisung im Retezat-Gebirgsdorf Balanu bekommen wir in der Stadt ohne Probleme, da wir das nötige Geld mitbringen. Viel Betrieb ist in diesen Geschäften nicht, solche Anschaffungen sind für viele nicht realisierbar.
Trotz der schon häufigen Besuche in der Stadt fällt uns die schmutzige Luft immer wieder deutlich auf. Ein wenig Leben scheint doch zu kommen, denn Teile des riesigen und die Stadt beherrschenden Kombinates, schon lange stillgelegt und dahinrostend, werden langsam abgetragen. Uns wird schwindelig bei dem Gedanken an Arbeitsschutz und ähnliches in Deutschland.
Alles in der Stadt erledigt, machen wir einen kurzen Abstecher zur Predigerfamilie in Calan, deren acht kleine Kinder das Haus mit Leben füllen. Mehrere Nasen laufen unaufhörlich. In der Wohnung ist es ebenso kalt wie wir es überall zu spüren bekommen. Das Holz zum Heizen benutzen sie erst im Winter. Einige Pakete hat eine Thüringer Familie für diese Schar wieder vorbereitet, wir besuchten sie schon im Frühjahr. Nun wissen die Kinder beim Auspacken, dass Strumpfhosen keine „macarone“ sind und wir lachen zusammen nochmals über diese Verwechslung vom Frühjahr. Die acht singen zusammen noch ein Lied, dann fahren wir wieder „nach Hause“, nach Racastia. Die Straße ist in der Dunkelheit ohne Markierung und Begrenzung kaum zu erkennen und schon sind wir auch am Abzweig vorbeigefahren. Aber wir finden ihn wieder und kommen gut an. Wir bereiten den nächsten Tag vor - vierzig Tüten für die Schulkinder und einiges mehr. Die Routine und viele Hände helfen dabei und nach dem Essen bleibt noch Zeit zum Erzählen, Fragen, Lachen ... und auch für einen kleinen Palinka, der im Ort gebrannt wird.
Am nächsten Morgen warten die Kinder schon gespannt in der Schule. Hand in Hand kommen die Kleinen aus dem Kindergartenraum in den Klassenraum dazu. Mit den Müttern im Hintergrund hören sie die Geschichte vom bittenden Freund in der Nacht aus der Bibel. Sie erzählt von der Wichtigkeit, als Freunde einander zu helfen, weil wir mit Jesus einen Freund haben, der niemanden im Stich lässt, wenn er zu ihm kommt. Die Kinder verstehen, was gemeint ist. Das Verteilen der Beutel mit Süßigkeiten, heiß erwartet, bringt das Ende dieses Schultages, traurig darüber ist niemand. Die Kindergärtnerin zeigt uns stolz den größeren Gruppenraum, der fertig renoviert ist. Damit verbessern sich die Bedingungen für die Beschäftigungen mit den Kindern in den unterschiedlichen Alterstufen wesentlich. Der große Kachelofen ist dank der Generalreparatur auch wieder heizbar. Die Ausgestaltung des Raumes zeugt von der intensiven Beschäftigung und der Förderung der Kinder, alles geschieht im Rahmen des Möglichen. Papier, auch buntes, Buntstifte und Malkästen sind die Wünsche für den vielleicht nächsten Besuch. Sie arbeiten und spielen mit dem, was sie bekommen. Aus dem eigenen Budget ist kaum etwas zu erwerben. Vieles hat sich verändert. Noch vor drei Jahren wirkten die Räume düster und die Farbe an den Wänden war verblasst. Spielzeuge suchte man vergeblich und die Kinder saßen auf wackeligen Stühlen vor zusammengenagelten Tischen. Im Winter brachte jeder täglich einige Stücken Holz zum Heizen mit. Bei den Gedanken daran freuen wir uns über unsere Möglichkeiten, mit denen einiges verändert werden konnte. Nach einem Kaffee mit der Kindergärtnerin und der Frau Profesora geht die Fahrt Richtung Süden ins Retezat.
Dort im letzten Dorf, gelegen am Ende des unbefestigten Weges, stehen wir wieder in einer anderen Welt. Die Hütten, größtenteils aus Lehm und Holz, haben sich nicht verändert. Freudig und herzlich begrüßt uns Frau Cristina mit der ganzen Familie.
Die ganze Aufregung der Freude und Vorbereitung auf die Begegnung steht ihr noch ins Gesicht geschrieben. Hier wollen wir eine wöchentliche Kinderspeisung einrichten. Per Brief war schon alles vorbereitet. Nun kamen wir mit den Materialien. Während des Auspackens stehen wieder einige Bewohner vor dem Haus und warten. Unsere Freunde erzählen ihnen, dass wir etwas für die Kinder des Dorfes einrichten und schon ist alles geklärt. Für die kleine Gemeinde ist das Keyboard bestimmt. Lebensmittel, Kinderbibeln, Malsachen und Süßigkeiten für die Kinder des Dorfes bringen wir in den Gemeinderaum.
In einer kleinen Küche soll dann das Essen gekocht werden. Dort bauen wir den Gasherd auf und schließen eine der drei gekauften Flaschen an. Der Start der Kinderspeisung ist eingeläutet. Große Kochtöpfe, Teller, Bestecke, Becher, Messer und was sonst noch dazu gehört, wird ausgepackt. Anschließend erzählen uns der Vater und Frau Cristina beim Essen, dass sie bereits seit einiger Zeit an drei Tagen der Woche Kinder des Dorfes versammeln. Sie halten dann gemeinsame Kinderstunden, die christlich geprägt, aber mehr sind als nur Unterweisung. Eine Art Kindergarten, Betreuung, Beschäftigung und Freizeitgestaltung geschieht hier in einer Umgebung, die wir uns nicht vorstellen könnten, hätten wir sie nicht selbst gesehen. Freiwillig und gern organisiert die Familie das. Sie sehen es als ihre persönliche Aufgabe an. Keiner fragt nach Bezahlung oder „ob es sich rechnet“. Sie tun es einfach mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Und die sind wahrlich nicht sehr reichlich. „Seit 48 Jahren hoffe und bete ich jeden Abend um eine solche Möglichkeit für unser Dorf, wie wir sie heute bekamen.“, erzählt der Vater. Das muss nicht weiter kommentiert werden. Wir freuen uns mit ihnen, dass sich unsere Wege so begegneten. Für die Lebensmittel übergeben wir noch das Geld und rechnen es kurz durch. Es sind ungefähr fünfundzwanzig Euro pro Woche für die vierzig bis sechzig Kinder und einige andere Bewohner.
Beim Spaziergang entlang der Hütten des Dorfes sehen wir nun schon mehr Details als noch beim ersten Mal. Beruhigender und schöner sind sie nicht geworden. Aber die Menschen grüßen freundlich. Wir hören vom Leben in diesen Hütten, von Behinderten, die darin wohnen, von jungen Frauen und Witwen mit Kindern, die nicht wissen, wie sie den Winter überstehen werden. Sie sollen in die Speisung eingeschlossen werden. Entfernt sehen wir die Hütte der Familie mit den achtzehn Kindern. Cristina zeigt auch auf die Stelle hinter dem Dorf, an der ihr Fohlen bereits Mitte September von einem Rudel Wölfe gerissen wurde. Problemlos können wir uns im Dorf bewegen, in dem wir mit sehr viel Respekt vor einem Jahr zum ersten Mal ankamen und vorher das Auto noch von innen verriegelten.
Am Ende des kleinen Rundganges bemerken wir über dem Dorf einen Regenbogen. Er spannt sich von einem Höhenzug zum anderen, in der Mitte darunter im Tal liegt das Dorf. Einst war er das Zeichen des Bundes, den Gott mit den Menschen geschlossen hat. Dieser Bund ist mit Christus besiegelt, auch für dieses Dorf, davon sind wir überzeugt. Nicht nur der Regenbogen spricht davon, sondern sehr vieles mehr. Wir wissen und verstehen sicher nicht alles, aber eines Tages werden wir mehr verstehen und sehen. Gedanken, gegründet auf das Wissen um unseren Auftrag, gehen uns durch den Kopf. Fragen haben wir mehr als genug. Aber schön zeigt sich der Bogen am Himmel trotzdem in diesem Moment. Wir müssen Abschied nehmen.
Der Mittwoch führt uns von Hunedoara aus weit über zweihundert Kilometer weiter südöstlich nach Oltenien. Dort besuchen wir eine Bekannte und installieren eine kleine Elektroheizung. Die letzten beiden Winter war die Wohnung im Blockbau kalt geblieben. Lilli, unsere Bekannte, besucht derzeit eine Bibelschule und wird jetzt mit Hilfe von Freunden aus Deutschland ebenfalls eine Suppenküche und Kinderbetreuung aufbauen. Die Fahrt ist herrlich und bringt uns das Land auf diese Weise wieder ein Stückchen näher, auch wenn tiefe Dunkelheit die Rückfahrt am Abend umhüllt.
Am nächsten Tag geht die Fahrt zurück nach Temeswar und nach dem letzten Abend dort naht wieder einmal das Ende unserer Reise. Vorher treffen wir uns noch mit Frau Petrescu. Sie betreut einige der alten und kranken Gemeindeglieder. Für Herrn Ernst war sie bis zu seinem Tod zur wichtigsten Person geworden. Schlicht und einfach erzählt sie von ihrer Arbeit, in die sie sich selbstlos, oft über ihre Kräfte, einbringt.
Vieles wäre noch zu erzählen. Dankbar fahren wir nach Hause. Mit der Unterstützung der Landeskirche und des Diakonischen Werkes in Thüringen und den vielen Hilfen von Firmen, Geschäften, Einrichtungen, Familien und Helfern sind diese Fahrt und alle Aktionen möglich geworden. Sie alle haben mit Freude bereitet. Wir erlebten, wie Gott das Werk segnet und Straßen baut. Diese Straßen führen immer zum Nächsten. Sie alle danken Ihnen, gemeinsam mit uns, für Ihre Hilfe. Das Zeichen des Regenbogens zu erkennen und auch persönlich zu erleben, wünschen wir jedem von Ihnen.