Oktober 2008 - Alles hat seine Zeit
„Geboren werden und sterben hat seine Zeit, pflanzen und ausreißen, bauen und abreißen, weinen und lachen, alles hat seine Zeit.“ Wenige Tage nach unserer Rückkehr aus Rumänien hören wir diesen Bibeltext im Gottesdienst. „Reisen und heimkehren hat seine Zeit, erleben und verarbeiten, nacharbeiten und vorbereiten, alles hat seine Zeit.“
Wir wollen nicht die Worte der Bibel ergänzen. Wir nehmen sie ernst und übertragen sie in unser Leben. Alles soeben Gehörte ist uns in den letzten Tagen begegnet. Wir stellen uns wieder um, auf unser hier und heute, ohne zu vergessen oder zu verdrängen. Das Leben unserer Partner und Freunde, vieler Menschen in Rumänien, ist uns nahe. Es ist uns unter die Haut gegangen, es ist Teil unserer Gedanken, Gespräche, ja es ist Teil unseres Lebens geworden. Gott sei Dank!
Die Vorbereitungen des vergangenen halben Jahres endeten mit dem Packen der beiden Transporter. Der LKW ist bereits einige Tage vorher geladen worden und wird nachkommen. Nach zwei Stunden Schlaf klingelt dann am Morgen des 16. Oktober der Wecker, drei Uhr ist Abfahrt. Zu siebent sind wir unterwegs. Winterkleidung und Schuhe, Medikamente und Schulsachen, Lebensmittel und Süßigkeiten, Kettensägen und Nägel, Spielzeug und Hygieneartikel, alles wird mit 850 m Klebeband zusammen gehalten. Inkontinenzmaterial und Plüschtieren füllen den Platz zwischen den Kartons, eine Kinderrutsche ist mit verpackt, Nachtstühle, Kinderwagen und Fahrräder füllen den letzten Hohlraum und in der Ecke steht der Apfelbaum. „Möge er Früchte tragen wie Eure Arbeit!“ mit diesem Wunsch wurde er uns von Helfern überreicht. Wir haben entschieden, dass er nach Rumänien gehört. Nach fünfzehn Stunden stehen wir vor Rumänien.
An der Grenze werden wir freundlich begrüßt mit dem „Woher und wohin“, noch eine Stunde haben wir vor uns, bis uns Zsombor Kovacs auf der Straße vor dem Pfarrhaus in Temeswar willkommen heißt. Für unsere drei „Neuen“ ist bald nichts mehr fremd. Mit dem Dankgebet für die unfallfreie Reise beginnt das erste Abendessen und eine zehntägige Zeit, auf die wir uns sehr freuen. Bis in den neuen Tag hinein wird erzählt, gefragt und berichtet. Die nächsten Tage sind zu planen, bis wir in den nötigen und erholsamen Schlaf sinken.
Der Freitag beginnt mit einem Termin im Deutschen Konsulat. Wer wir sind ist schnell gesagt. Zu berichten, was wir in Rumänien unternehmen, benötigt mehr Zeit. Wir schildern Situationen Einzelner und die des Dorfes Balanu etwas genauer. Wie uns das Konsulat unterstützen kann, auch dazu haben wir natürlich Ideen. Nicht wir, aber die Menschen in Balanu brauchen dringend Unterstützung, auch aus dem eigenen Land, das wird im Gespräch deutlich und das wäre unser Wunsch. Der gesicherte Schülertransport nach Clopotiva oder in anderen dringenden Fällen in die nächste Stadt, Fragen der Hygiene im Dorf und die soziale Situation sind die wesentlichen Punkte. Wir versuchen es so anschaulich wie möglich darzustellen und hoffen auf positive Entscheidungen. Gern wollen wir mit unseren Möglichkeiten mitarbeiten. Auf Hilfe von kommunaler Seite warten wir dort seit Jahren vergeblich, auch nach intensiven Gesprächen. Aber Hoffnung prägt den Gesprächsverlauf, offene Ohren für unsere Fragen haben wir gefunden.
Nach einer Stunde ist das Gespräch beendet, die anderen sind vom ersten Stadtrundgang zurück und die Autos immer noch beladen. Also - auspacken und sortieren, Mittagessen, kurze Siesta und dann Abfahrt Richtung Familie Csiki. Zsombor fährt im gewohnten rumänischen Fahrstil die schnellere Strecke durch die kleinen Straßen voran, die Ampeln sind uns freundlich gesinnt und der Motor reagiert auch schnell genug. Da es am Tag ausgiebig geregnet hat, sieht die unbefestigte Straße vor dem Csiki-Haus entsprechend aus. Auf der Beifahrerseite gelingt auch der Ausstieg, ohne im tiefen Schlamm zu versinken.
Die Großmutter begrüßt uns, nach einigen Minuten kommt auch die fünfjährige Ana-Maria durch den Garten gerannt. Bei der Urgroßmutter konnte sie spielen und die Kindersendung ansehen, denn dort gibt es Strom, bei ihr hier zu Hause nicht. Ein selbst gemaltes Bild bringt sie als Geschenk mit und erklärt uns die Früchte darauf. Sie erzählt von den Kernen der Sonnenblume, die sie gern isst und selbst geerntet hat. Im Haus ist es dunkler als in der „Sommerlaube“, in deren Ecke auch ein Bett steht. Die Laube unterscheidet sich nicht von dem Haus oder andersherum, nur dass es keine Wände gibt. Wir probieren dem Mädchen die mitgebrachten Schuhe an, sie passen. Am besten gefallen ihr die bunten Gummistiefel, sie wird sie brauchen. Spielzeuge, Süßigkeiten zu Weihnachten, Kleidung und Lebensmittel laden wir aus. Von der Kleinen erfahren wir von den Gewaltattacken ihrer geistig zurückgebliebenen Mutter. Die Großmutter hat Angst um sie und kann deshalb die beiden nicht mehr allein zusammen lassen. Nachts schläft Ana-Maria deshalb mit im Bett der Oma und die Tür wird von innen verriegelt.
Wir müssen nachdenken, nicht nur darüber, sondern über die ganze Situation der Familie am Rand dieser großen Stadt. Die Lebensmittelpreise in den Geschäften lassen keinen Spielraum, das Ende der Spirale von Preissteigerungen entfernt sich immer weiter. Ein Liter Öl mit über drei Euro ist absolutes Luxusgut, also nicht käuflich, ebenso Milch und ähnliches. Sie sind das gewohnt und klagen nicht. Sie freuen sich besonders über die Kerzen, denn die Abende kommen schneller und werden länger. Wir verabschieden uns und besuchen kurz die kleine reformierte Kirche des eingemeindeten Dorfes.
Mit Geld von handgefertigten Nudeln haben die Leute neue Fenster und Türen eingebaut. Wir freuen uns mit ihnen, dass so in dieser Kirche Stück um Stück heranwächst und zusammen mit der Renovierung auch die Gemeinde. Sie erleben „Segen“ und sind dafür dankbar. Roşi, Zsombors Sekretärin, erwartet uns mit ihrer Familie zum Abendessen. Seit einiger Zeit halten sie sich Puten. Eine landet an diesem Abend, köstlich zubereitet, auf dem Tisch. Beide sind froh, eine Arbeit zu haben. Nur so schaffen sie es finanziell, auch mit den beiden Mädchen in der Schule. Die beschäftigen sich mit Zsombors Kindern am Computer, sie haben gute Chancen für weiterführende Schulen und Ausbildung.
Am nächsten Morgen nutzen wir das bessere Wetter nochmals zum Stadtbummel. Wer auf ein besseres Wörterbuch hofft, der hofft vergeblich. Die Geschäfte sind gefüllt, allerdings mehr mit den Waren als mit Menschen, die Gründe sind bekannt. Auf dem Markt ist mehr los, zumindest an den Gemüseständen, an denen die Gartenerträge der Umgebung angeboten werden.
Frau Eva wartet auf unseren Besuch, wir klingeln pünktlich. Sie erzählt von dem, was sie bewegt, weil sie es so selten jemandem erzählen kann.
Am Nachmittag sind wir bei den Frauen der Gemeinde zum Essen eingeladen. Im Vergleich zum Frühjahrsbesuch mit den Bauarbeiten im Pfarrhaus ist es für uns jetzt eine entspannte Zeit. Das wird sich noch ändern, aber jetzt genießen wir sie, auch wenn es schon kühl ist. Zsombor heizt ein und bald brutzelt es auf der zum Grill umgebauten Scheibe einer Egge. Die Frauen bringen den Salat und der im Hof arrangierte Tisch bietet allen Platz. Zsombor bereitet das Grillen genau soviel Freude wie uns das Essen. Aber alles hat seine Zeit, jetzt ist Zeit zum Aufbruch, am Abend findet in der Kirche ein Konzert statt.
Zwei Absolventinnen des Gesangsstudiums und ein zehnjähriger Geiger beweisen uns, was sie erreicht haben. Gefördert durch eine deutsche Organisation, bestechen sie durch eine professionelle Darbietung aus ihrem umfangreichen Repertoire. Vor dem Abendessen sehen wir uns nochmals die Bauarbeiten im Pfarrhaus an. Ein Gemeinderaum und eine größere Arztstube sind im Entstehen. Die meisten Wände sind geputzt. Wir erläutern den möglichen Einbau von Zwischendecken. Im Frühjahr Begonnenes ist gewachsen, insbesondere der Ausbau der Arztstube freut uns. Sie ist fester Bestandteil der Gemeinde geworden und für viele eine große Hilfe. Der Wechsel in der medizinischen Betreuung durch Frau Dr. Bobcok ist gut angenommen und Dr. Iacob steht für besondere Untersuchungen weiter zur Verfügung.
Am Sonntag treffen wir die Gemeinde im Gottesdienst. Der Predigttext spricht vom Wachsen im Glauben. Was das bedeutet und wie es im Leben umzusetzen ist, versuchen wir nicht nur im Gottesdienst zu bedenken, sondern es prägt seit zehn Jahren unsere Arbeit in Rumänien und die Wege, die wir mit den Menschen gemeinsam zu gehen versuchen. Schritt für Schritt gehen wir, manches geht schneller, für manches ist mehr Atem erforderlich, aber der Segen unseres Gottes ist immer wieder neu zu spüren und zu erleben. Im Anschluss an den Gottesdienst können wir den Lohn für die Sekretärin, Geld für die Diakoniekasse und für Familie Csiki übergeben. Die Gemeinde bedankt sich ausführlich für die Unterstützung, auch während der letzten zehn Jahre, und stellt uns ein noch nicht fertig gewordenes Geheimnis in Aussicht. Besuchen hat seine Zeit und abfahren hat seine Zeit. Dankbar sind wir für die Tage in Temeswar, für alle Gespräche, für alle uns entgegengebrachte Herzlichkeit, für unsere Freunde. Wir starten in Richtung Hunedoara.
Nach gut zwei Stunden treffen wir uns in Dobra mit Alexandru Filip aus Hunedoara. Am Rand dieses großen Dorfes führt er uns in kleiner Besetzung zu einer alten LKW-Garage. Lenuţa Budriş, die Cousine seiner Frau, lebt mit ihrer Familie in der abgeteilten Ecke der Garage. Mit zwei Jungen, elf und achtzehn Jahre alt, erhielten die Eltern die Erlaubnis, an diesem Platz für ein Jahr kostenlos zu „wohnen“. Diese Zeit war jetzt abgelaufen. Mit der Aussicht, etwas Neues zu finden und einer eventuellen Unterstützung wurde die Genehmigung bis zum Frühjahr verlängert. Die Frau wirkt krank, sie ist am Ende ihrer Kraft. Beide erzählen, dass er Autos repariert und sie so versuchen, sich über Wasser zu halten. Die Folie auf dem Lehmboden ist frisch gewischt, hinter dem selbst gemauerten Ofen, dessen Rohr vermutlich mehr Wärme bringt als die Feuerstelle, steht das einzig sichtbare Bett. Der Raum ist schnell zu überschauen. Wir wissen, dass sie keine Teller haben, an was es dann noch mangelt ist abzuschätzen. Mit Florin, dem Vater fahren wir aus dem Dorf auf ein Feld und er zeigt uns eine Fläche, die er gern erwerben würde, um darauf ein kleines Haus zu bauen. Vom Ertrag des scheinbar fruchtbaren Bodens wollen sie sich ernähren und den Bau finanzieren. Während er das Haus und den Garten vor uns förmlich aufbaut, staunen wir darüber, mit welchem Elan er seine Situation zu verändern sucht. Er hat noch nicht aufgegeben, auch nicht angesichts dieser bisherigen Bleibe, in der vermutlich eher der Putz von Decke und Wänden als das Essen im Topf landet. Während er uns von seinem Vorhaben erzählt, leuchten seine Augen. Zurück bei der Familie zu Hause übergeben wir Geld zum Erwerb eines Grundstücks, die Erleichterung wird sichtbar. Kleidung, Lebensmittel, Federbetten, Nähmaschine, Küchenutensilien, Schul- und Spielzeuge, alles was vorbereitet ist, wird ausgeladen. Die Familie kann es noch nicht so richtig begreifen. Mit Alexandru verabschieden wir uns und stehen eine Stunde später bei ihm zu Hause in Răcăştia.
Die Kinder sind groß geworden und begrüßen uns. Adriana kommt und lädt uns zum Essen ein. Seit dem Morgen haben sie damit gewartet. Wir sortieren erst das Gepäck aus und ein, bereiten die Schultüten für morgen vor und können endlich essen, es ist schon lange dunkel geworden. Sie erzählt und ihre Arbeit beherrscht das Gespräch. Zwölf bis vierzehn Stunden täglich, fünf bis sechs Tage pro Woche ist sie für die Qualität der großen deutsch-rumänischen Firma verantwortlich. Bezahlt werden ihr, wie auch der übrigen Belegschaft, nur vier Tage. So ist das. Andrej, ihr Mann, hat nach fast einem Jahr endlich eine Anstellung bekommen. Nach vielen Bekannten fragen sie uns, für viele haben sie schon das Haus geräumt, damit wir bei ihnen schlafen konnten. „Mein Haus ist dein Haus!“, immer wieder hören wir es, sie weiß es einzuschätzen, dass dadurch vieles geschehen kann.
Bei Familie Filip dauern die Gespräche dann, wie gewohnt, bis weit in den Morgen hinein. Ein Sohn musste für eine knappe Woche ins Krankenhaus. Da niemand aus der Familie eine Versicherung bezahlen kann, hat das pro Tag achtzig Euro gekostet. Alle Reserven, das im Sommer mit kleinen Jobs verdiente Geld und ein privater Kredit von Freunden sind aufgebraucht. Monica und Lavinia brauchen dringend Sportanzüge, denn die Schule hat vor vier Wochen begonnen. Alexandrus letztes Paar Schuhe hat schon Löcher und als T-Shirt dient ihm zurzeit eine Schlafanzugjacke. Trotz aller Bemühung um Arbeit dreht sich bei den geringsten Problemen alles im Kreis. Monica besucht das Lyzeum und wir sind alle sehr froh darüber, Lavinia wird nachziehen. Ohne entsprechende Ausbildung hat kaum jemand im Land eine Chance, zumindest nicht auf legalem Weg. Wir füllen auf, gedankt wird es unter Tränen. Sie schämen sich, es nicht selbst zu schaffen. Wir sind froh, ihnen helfen zu können. Ein paar Stunden Schlaf finden wir noch, bevor wir pünktlich um zehn Uhr vor der Schule und dem Kindergarten stehen.
Die Lehrerin empfängt uns und die Kinder sitzen in Reih und Glied mit erwartungsvollen Gesichtern vor uns. Wir vermissen die alten Schulbänke und bestaunen den neuen Laminatboden. Liliana, Alexandrus Frau, hat sich dafür mit Nachdruck bei einem Gemeinderat des Ortes eingesetzt. Für diese Beharrlichkeit wurden dann die Kinder belohnt. Möbel sind auch versprochen. Nach einer kurzen Kinderandacht helfen uns einige beim Hereintragen der Tüten und es dauert nicht lange, bis nach der Verteilung die Köpfe darin stecken. Es wird geflüstert und getuschelt, Spielzeuge und Süßigkeiten stolz dem Nachbarn gezeigt und die Freude darüber strahlt aus den Augen der Kleinen. Jede Tafel Schokolade und jede Tüte Gummibärchen lässt die Augen der Kinder leuchten. Auf dem Hof warten schon die Mütter. Für die Schule und den Kindergarten laden wir noch Materialien aus und sitzen mit der Lehrerin und der Kindergärtnerin zusammen. Bastelmaterial ist für beide Einrichtungen eine wichtige Hilfe, denn vom Staat kommt diesbezüglich keine Unterstützung. Ebenso sind die Stifte, Hefte, Malsachen, Scheren und Kleber hier gut aufgehoben, sie werden bei Bedarf entsprechend verteilt. Drei Kinder benötigen wieder Buskarten, um zur Schule zu kommen. Ihre Eltern können das Geld dafür nicht aufbringen. Während wir bezahlen klingelt unser Telefon und uns erreicht die Nachricht, dass der LKW schon in Balanu wartet, einen Tag eher als geplant. Das ist eine Überraschung. Wir verabschieden uns in der Schule und brechen nach dem Essen bei Familie Filip auf, Alexandru begleitet uns wieder nach Balanu.
Vor der großen Burg in Hunedoara biegen wir rechts ab, denn Familie Varga erwartet uns noch. Neben der notdürftig abgedeckten kleinen Baracke, aus der vor Jahren Munition für den dortigen Schießplatz herausgegeben wurde, springen die Kinder beim Heranrollen der Fahrzeuge aufgeregt hin und her. Mit den Eltern kommen sie wieder heraus, wissend, dass wir nicht nur „Bună ziua“ (Guten Tag) sagen wollen. „Der Sommer war gut und wir sind gesund, das genügt.“ Der Vater hat weiterhin seinen halben Job in der kleinen Gaststätte als Reinigungskraft, natürlich ohne Arbeitsheft, also schwarz. Die kleine Rahela ist gewachsen und fast ein Jahr alt, selbst sie lächelt freundlich und ohne Scheu. Wir laden mit den Kindern aus, natürlich Lebensmittel, Winterkleidung, Schuhe, Erkältungsmittel, Hygieneartikel und was eine neunköpfige Familie sonst noch brauchen kann. Kerzen sind wichtig, nicht weil Weihnachten kommt, sondern weil der Stromanschluss fehlt. Wir verabschieden uns, während sich draußen an der Wasserstelle für die Familie die Hunde um den besten Platz streiten. Diese Familie hier oben zu erleben, macht nicht nur betroffen, sondern fordert dazu heraus wiederzukommen. Die Kinder behaupten sich in der Schule, lernen gut, aber auch sie brauchen Geld für den Schulbus. Das monatliche Kindergeld für ein Kind reicht nicht für die Monatskarte, geschweige denn für etwas anderes. Unser LKW wartet in Balanu und unsere Füße werden unruhig, um vier Uhr sind wir verabredet.
Eine Stunde vorher stehen wir neben dem LKW, vier Kilometer vor dem Dorf. Die Fahrer haben einen Ausflug in die herrliche Natur des Retezatgebirges unternommen. Wir durchqueren die Schlucht und rollen nach Balanu ein. Nicht nur Cristinas Kinder kommen angerannt, sondern in einiger Entfernung wartet aufgereiht eine große Gruppe und kommt uns bald entgegen. Sie sondieren wer dabei ist und sind froh, denn die nächsten Tage sind mit Spielen durch bekannte Gesichter gesichert. Zu siebent werden wir auch in Balanu herzlich in Empfang genommen, unsere drei „Neuen“ sind schnell vorgestellt.
Da die Zeit drängt, ziehen wir uns um und bald sehen wir zu unserer großen Freude den LKW rückwärts heranrollen. Wir brauchen deshalb vor dem Dorf nicht die gesamte Ladung in die beiden Transporter umladen. Länger als zwei Jahren haben wir darauf gewartet, diese Ladung an dieser Stelle übernehmen zu können und deshalb ist die Freude groß, die beiden Fahrer aus dem Erzgebirge jetzt begrüßen zu können. Ihre Fahrt ist reibungslos verlaufen, die Ladung nicht verrutscht, wir entladen ein Stück nach dem anderen. Fast sechs Tonnen sind angekommen. Die Edelstahlküche aus Eisenach, Fenster und Haustüren aus Bad Langensalza, Quirla, Tabarz und Ingersleben sind bestimmt für das Gemeinschaftshaus. Kinderkrankenhausbetten aus Friedrichroda und medizinische Geräte aus Salzwedel, Arnstadt und Rudolstadt sind bestimmt für das Krankenhaus in Haţeg. Jede Ecke ist natürlich ausgefüllt, Sanitärkeramik aus Erfurt, Fensterbleche aus Bischleben und Thörey, Fahrräder, Kinderwagen, Betten, Matratzen und Schränke, alles kommt wieder zum Vorschein und wird so gut und so schnell wie möglich untergebracht. Helfer aus dem Dorf sind dabei und die Kinder beobachten alles aus der Nähe. Kleidung und Schuhe für das Dorf, Spielzeuge und Puppen werden zu Weihnachten verteilt, es wird ein großes Fest geben. Nach einer kurzen Kaffeepause verabschieden sich die Freunde mit dem LKW, sie wollen selbst noch einiges verteilen, ihr Hänger wartet im letzten Dorf vor Balanu.
Als wir unsere Transporter entladen, ein letztes Mal, dämmert es schon. Im Keller des Neubaus stapeln sich die Kartons bis zur Decke, bis schließlich alles verstaut ist. Endlich gibt es mehr Zeit, sich das gewachsene Haus näher anzusehen.
Natürlich hat das rote Dach aus ziegelgeformten Blechtafeln schon bei der Einfahrt ins Dorf geleuchtet. Angeluţ erklärt uns, wie er es mit einigen Helfern ohne Gerüst montiert hat. Drei Viertel der Fläche ist geschlossen und in der Mansarde ist Platz für weitere Zimmer entstanden, für Lagermöglichkeiten oder Schlafräume. Es ist schon gewaltig, das Ergebnis der letzten drei Jahre jetzt stehen zu sehen. Viele Helferinnen und Helfer aus der Heimat haben das ermöglicht, was wir jetzt bestaunen und was für das Dorf zu einem wirklichen Gewinn werden wird.
Die am Hang perfekt sitzende Rutsche ist seit ihrer Platzierung pausenlos belegt und die Kinder können davon nicht genug bekommen. Wir sortieren im Schein der Taschenlampen bis in die Nacht hinein die Fenster, messen, vergleichen und entscheiden, bis die Freigabe zum Essen kommt. Dabei wird der nächste Tag besprochen und dann kann jeder seinen Schlafplatz beziehen, dankbar für alles was heute erledigt werden konnte. Es war ein langer Tag.
Am nächsten Morgen weiß jeder um seine Aufgabe. Die Maße der Fenster und Haustüren werden, wo nötig mit Steinen und Mörtel oder mit dem Winkelschleifer und der Kettensäge korrigiert. Ein Teil unserer Gruppe fährt nach Haţeg ins Krankenhaus. Ein fast neuer Röntgenfilmentwickler wird abgeladen. Glücklicherweise gelingt es dem Administrator einen Gabelstapler und einen Palettenwagen zu besorgen, sodass das Gerät seinen Platz in der Radiologie findet. Der Rest steht mit uns dann auf dem Hof und es dreht sich erst mal kein Rad. Niemand erscheint und wir werden unruhig, denn es sind heute nicht nur die Kinderbetten zusammen zu bauen. Ein Arbeiter kommt und zuckt auch nur mit der Schulter, wir entscheiden, die Teile der Betten auf die Kinderstation zu bringen und bauen sie im Flur davor zusammen, ein wenig frustriert über das Engagement des Administrators. Der Arbeiter ist willig und hilft nach Kräften mit.
Nach gut zwei Stunden übergeben wir die Betten den Schwestern, nicht ohne Einweisung in die technischen Details. Solche Betten sehen sie zum ersten Mal und bestaunen die Möglichkeiten der Lagerung der Patienten und das Absenken und Einstellen der Seitenteile. Endlich lässt sich auch der Administrator wieder blicken und wir bringen Sterilisatoren, Defibrillator, Gehhilfen, Verbrauchsmaterialien und Medikamente ins Depot, wo sie, aufgestapelt neben Lebensmittelkonserven, auf die Verteilung zum entsprechenden Einsatzort warten.
Wir suchen den Direktor des Hauses auf, der uns am Morgen schon begrüßt hatte. Er ist über die mitgebrachten Dinge sehr froh und bedankt sich ausführlich. Er kennt die Probleme des Gesundheitssystems im Land und die des Krankenhauses und muss es trotzdem führen. Mit ihm besprechen wir Details unserer Lieferung bei einem Kaffee. Dass er bei medizinischen Problemen der Menschen aus Balanu hilft, so gut er kann, wünschen wir uns. Er versteht uns gut und sagt das zu. Wir verabschieden uns und fahren zurück.
Die Kinder haben sich schon die beiden Spielgefährtinnen aus unserer Gruppe herausgefiltert und in Beschlag genommen. Die Fensterlöcher nehmen Formen an. Die mitgebrachte Kreissäge wird zusammengebaut und schneidet die ersten Leisten. Mit Einbruch der Dunkelheit verstummen die Werkzeuge und das Telefon klingelt, unser Tischler aus Zürich ist in Haţeg angekommen.
Wir treffen ihn dort wohlbehalten an und dirigieren ihn nach Balanu. Zwei Tage war er allein aus der Schweiz nach Rumänien unterwegs, um jetzt die Fenster und Haustüren einzubauen. Nicht nur das war eine Leistung, sondern auch in den nächsten beiden Tagen wird er dafür sorgen, dass das Haus dicht wird. Einige von uns helfen ihm natürlich entsprechend. Teil für Teil verbindet sich mit dem Bau und ein erhebendes Gefühl ist es, zum ersten Mal die Haustür aufschließen zu dürfen.
Als beim Fenstereinbau etwas Zeit bleibt, formiert sich die Elektrobrigade und stattet Gabis Haus mit einer ordentlichen Elektrozuleitung aus Emleben bei Gotha aus. Das vor einem halben Jahr von uns fertig installierte Badezimmer soll warmes Wasser bekommen. Der Haken an der Sache ist, dass des Bürgermeisters Wasserleitung seit der Zeit kurz nach seiner Wiederwahl ohne Inhalt blieb. Also wurde in der Stadt eine ordentliche Wasserpumpe gekauft, Angeluţ musste angeseilt in den Brunnen steigen und am Abend können wir zum ersten Mal in Balanu duschen und den Bauschmutz mit warmem Wasser abspülen. Gleichzeitig ist das erste WC des Dorfes funktionstüchtig. Das sind Ergebnisse, von denen wir vor einiger Zeit absolut nicht gewagt hatten zu träumen. Vieles wird sich Stück um Stück jetzt ändern, aber es braucht erst alles seine Zeit.
„Vergessen und missachtet!”, das sind die Worte eines unserer Erstreisenden auf dem Weg durchs Dorf zur Schule. Sie fühlen sich wie in einem Film und doch ist es Realität, was sie hier sehen. Zwei Jungen kommen mit Säcken vom Fluss. In jedem Sack einige Colaflaschen, gefüllt mit trübem Wasser. Es wird zum Waschen, Essenzubereiten und zum Trinken genutzt werden, sie verschwinden in der klapprigen Hütte, in der fünf Personen in dem einen kleinen Raum leben.
In der Schule und im Kindergarten warten die Kinder. Maria liest uns einen kleinen Text vor. Als der Lehrer kurz verschwindet fragen wir die Kinder nach acht mal vier, das weiß keiner. Sicher hatte der Lehrer wieder viel auf seinem Feld zu arbeiten. Nebenan singen uns die Kleinen ein Lied. Wir bauen eine Kinderküche aus Erfurt auf und noch während der „Installation” bereiten die Kinder die ersten „Speisen” zu. Wir übergeben Spielzeuge und Schulmaterial. Viel Zeit bleibt uns nicht, wir verabschieden uns.
Die begonnen Arbeiten gehen weiter, der Kiosk im Hof, die Gefriertruhe und die Pumpe bekommen einen neuen Elektroanschluss und die bisher dafür genutzten Klingeldrähte werden von den Nägeln und Bäumen abgewickelt.
Nach dem Mittagessen kommt Frau Dr. Bobcok mit ihrem Mann aus Temeswar. Sie hat uns versprochen, für die Frauen des Dorfes ein Seminar anzubieten. Auch ihnen zeigen wir das Dorf und mit jedem Schritt hinein werden sie betroffener über die Situation. Andrada verrät ihr bereitwillig, dass sie vier Jahre alt ist, zwei Jahre jünger wurde sie eingeschätzt. Frau Tenzuca sieht mit siebenundvierzig jedoch zwanzig Jahre älter aus. Aus dem Kiosk heraus hat Gabi, Cristinas Schwester, die Frauen beim Brot holen für das Seminar eingeladen und dreizehn Frauen erfahren nun so einiges Neues über sich selber. Mit farbigen Darstellungen erkennen sie ihren Organismus und bis hin zu den Themen Hygiene, Verhütung sowie nachgeburtliche Versorgung und Kontrollen wird vieles besprochen. Es sind heikle Themen, deshalb wird darüber im Land wenig und und hier gar nicht gesprochen. Jetzt war die Zeit dafür reif und die Frauen öffneten sich im Gespräch, so erfahren wir danach.
Immer und immer wieder kleben die Kinder an uns und zeigen damit das Defizit an Zuneigung zu Hause. Sie wachsen oft als „Nebensache” auf, die Eltern sind tagsüber unterwegs auf Arbeitssuche in der Umgebung oder für ein halbes Jahr oder länger im Ausland. Der Platz vor Cristinas Haus ist nicht nur bei unserer Anwesenheit der Kindertreffpunkt zum gemeinsamen Spiel. Manchmal schickt Cristina auch eine Gruppe zum Papierauflesen durchs Dorf und belohnt sie danach mit Süßigkeiten. Stolz erzählen sie uns, während sie buchstäblich an uns hängen, dass sie in der Schule waren, wer nicht dort war erfahren wir auch gleich, von den anderen. Haben sie schon begriffen, worauf es uns ankommt? Alles braucht seine Zeit, wir auch, um so vieles hier zu verstehen.
Am Samstagmorgen verabschieden wir drei unserer Gruppe in die Heimat, zwei nach Deutschland und unseren Tischler in die Schweiz. Alle haben ganze Arbeit geleistet und jeder hat gegeben, was in seiner Kraft stand. Vieles ist entstanden und gewachsen, im Miteinander gelungen. Sie reisen ab und mit ihnen auch das bis dahin schöne Herbstwetter. Der Baum wird oberhalb des Hauses gepflanzt, die Kinder warten auf uns, ebenso auch eine Familie im Dorf. Die Leute haben sich ein neues Häuschen gebaut und uns gefragt, ob wir für Strom sorgen können. Noch können wir und installieren die beiden Räume.
Seit dem Morgen werden im Dorf neue Masten gestellt. Deshalb musste der Strom abgeschalten werden und unsere Waffelbäckerei stagniert.
Nach dem Mittag feiern wir mit den Kindern Gottesdienst. Mit einem von den Kindern gebastelten Spinnennetz erklären wir, wie wichtig der nach oben gespannte Faden für das Leben der Spinne ist. Reißt dieser Faden verliert die Spinne den Halt und das ganze Netz an Stabilität. Der nach oben führende Faden hält das Netz und sie selbst. Das verstehen die Kinder und sind eifrig dabei. Wir nutzen den „Faden” nach oben und erbitten weiterhin Segen für dieses Dorf und die Menschen.
Ein Krankenbesuch steht an und ein Nachtstuhl bereit für die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmte Frau. Wir versuchen ihr ein wenig Mut zuzusprechen und lassen für ihren Mann wichtige Medikamente da. Sie erzählt, dass Cristina oder ihre Mutter oft mit Essen und anderen Dingen zu ihnen kommen. Inkontinenzartikel sind für sie wichtig, sie sind mit uns wieder angekommen.
Auf dem Rückweg klopfen wir an einer Hütte in der ein drei Monate altes Kind lebt. In eine Jacke gewickelt liegt es auf dem einzigen Bett im Raum. Kurz vor unserem ersten Besuch im Dorf ist ein Kind im Schlaf zwischen den Eltern erstickt. Wir versprechen einen Kinderwagen mit Tragetasche, der mit angekommen ist und verabschieden uns und besuchen Crina.
Sie lebt mit zwei kleinen Kindern in einer Hütte in der Dorfmitte. Über das Foto von ihr und den Kindern vom Frühjahr freut sie sich. Wir entdecken das von ihr selbst gebaute „Kinderbett” aus Resten abgebrochener Hartfaserplatten für beide Kinder. Sie wird bald ein richtiges Kinderbett für beide bekommen, es steht noch zwischen den Kartons.
Endlich findet sich auch etwas Zeit, um mit Cristinas Eltern zu reden. Sie sind überaus dankbar für alles, was sich im Dorf bewegt und erzählen von den vielen Veränderungen seit dem wir das Dorf besuchen. Von sich berichten sie erst nach vielem Fragen. Fast die Hälfte ihrer Rente bezahlen sie für den Strom, kaum die Hälfte der Leute im Dorf können das Brot jeden Tag bezahlen. Wir begleichen Außenstände, sie sind von Herzen dankbar.
Mit Cristina sortieren wir Medikamente und übergeben das Geld für den Bau, die Sozialküche, für medizinische Notfälle und Schulbesuche. Sie wissen, dass es von vielen Freunden und Helfern aus der Heimat stammt und wissen einfach nicht, wie sie sich bedanken können. Sie danken in den Gottesdiensten und beten für uns.
Der Strom wird wieder zugeschalten und bald essen die Kinder frischgebackene Waffeln mit Apfelmus. Leider mussten die Bratwürste noch eingefroren bleiben, denn das Wetter hat das Grillen nicht zugelassen. In Kürze werden sie auch verspeist sein. Der letzte Abend geht dem Ende entgegen.
Alles hat seine Zeit, der Morgen bringt die Abfahrt. Die Worte bleiben im Hals stecken, die Augen sind feucht, wir reisen ab. Hinter uns winken die Kinder, die sich am Sonntagmorgen versammelt haben, zurück bleibt das Haus, rundum geschlossen, unsere Aufgaben sind erledigt.
Alexandru liefern wir zu Hause ab, wo uns auch Gigi aus Calan begrüßt. Er ist zum Gottesdienst gekommen. Leider blieb uns keine Zeit, die Familie dort zu besuchen. Wir übergeben ihm für seine neun Kinder gepackte Pakete von Freunden aus Wechmar.
Mit Alexandru haben wir in Balanu seinen Geburtstag gefeiert. Das Geburtstagsgeschenk, einen Ofen zur Warmwasserbereitung, zeigt er strahlend seiner Familie, bald wird er eingebaut sein. Wir verabschieden uns auch von ihnen. Familie Varga bekommen noch einige Fahrräder und Familie Budriş in Dobra die endlich auch aufgetauchten Beutel mit den Schuhen und auch ein Fahrrad.
In Temeswar angekommen, stürzen nun nicht alle fast gleichzeitig in die Badewanne, das war auch eine neue Erfahrung - Balanu lässt grüßen - Zsombor kann es kaum glauben.
Am Abend kommen alle Presbyter zum Essen und danach wird endlich das versprochene Geheimnis für die zehnjährige Unterstützung gelüftet: Ein Künstler hat ein Ölbild mit der Kirche in Temeswar gestaltet und seine Gedanken zum Kreuz Jesu hineinfließen lassen. Wir können kaum „Danke“ sagen und sind mehr als überrascht. Doch auch dieser Abend geht zu Ende und damit unsere Zeit in Rumänien.
Wer dabei war kann ein wenig einschätzen, was so ein „Hilfstransport“ bedeutet. Noch eine Wochen später melden sich zu Hause Erstreisende und reden darüber, wie gewaltig ihre Eindrücke waren. Die Tage gehen zu Herzen und verändern uns immer wieder. Wir sind dankbar, diese Arbeit tun zu dürfen und legen alles Erlebte zurück in die Hände Gottes, dass ER daraus Segen erwachsen lasse.
Ihnen, unseren Helferinnen und Helfern zu Hause, danken wir von Herzen und im Namen unserer Freunde, die nur einige Autostunden von uns entfernt leben.
Ihre Hilfe motiviert uns und stärkt uns den Rücken. Es ist möglich Hilfe zu schaffen, wo sie nötig ist, um ein Stück Armut dieser Welt zu verändern, wenn wir dazu nur bereit sind. Zukunft muss nicht trostlos sein, wenn wir Schritte im Vertrauen wagen. Jeder der mithilft, hat auch weiterhin Anteil daran, danke!