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Oktober 2013 - Mit und ohne Geländer

„Wir sind zurück und wollen berichten“, so steht es nach jeder Rumänienfahrt auf unseren Einladungen zum Diavortrag. Genauso meinen wir es und gern geschieht das auch wieder mit diesem Reisebericht. Die Tage in Rumänien, bei unseren Freunden und Partnern, die Begegnungen mit Menschen, Situationen und Erlebnissen graben sich förmlich in uns ein und das ist gut so. Gleich einem Samen soll es keimen, wachsen und wieder Früchte bringen.

Zehn Tage waren wir unterwegs und die zweite Oktoberhälfte hat sich wettermäßig von ihrer Traumseite gezeigt. Wenige Tage vor unserer Abreise konnten wir den größten Teil unserer Ladung per LKW voraus schicken. Kleidung, Schuhe, Stühle, Fahrräder, Waschbecken, Spielzeuge, Betten, Kleinmöbel und mehr wurde während einer Nachtschicht verladen.

Als wir uns zu viert auf die Reise begeben, sind die Sachen vom LKW in Temeswar und Balanu abgeladen. Bei unserer Ankunft in Temeswar hat sich der Freitagabendverkehr auf den Straßen soweit beruhigt, dass wir gut durch kommen und selbst in der Einbahnstraße vor dem Pfarrhaus ist schon Platz zum einrangieren in die enge Toreinfahrt. Wir werden erwartet und die lange Latte mit den kleinen Begrüßungsgläschen, die eigens für uns angeschafft wurde, ist frisch geputzt und wird angereicht. Es gibt eben einige Rituale, die sich mit unseren vielen Besuchen entwickelt haben. Vor allem aber sind es Freundschaften und Herzlichkeiten, die wir immer wieder aufs Neue erleben. Hinter all den Paketen, Säcken und Koffern, die mit dem LKW oder jetzt mit uns ankamen, stehen Menschen und Familien in Deutschland, die seit längerer Zeit oder zum ersten Mal, diese Fahrten ermöglichen. Ihnen ist es wichtig zu teilen und dorthin abzugeben, wo Hilfe notwendig ist und gezielt und nachhaltig zum Einsatz kommt. Alles wird für die einzelnen Stationen sortiert. Drogeriewaren, Schulbedarf, Kinderschuhe und vor allem Lebensmittel ordnen wir jeder der Stationen zu.

Das Abendessen ist vorbereitet und wir finden Zeit zum Erzählen. Bei der Pfarrfamilie Kovacs ist es ruhiger geworden. Die zwei großen Kinder sind seit Kurzem zum Studium in Szeged (Ungarn) und in Klausenburg (Cluj-Napoca, Rumänien). Der Jüngste, besucht die 7. Klasse und fühlt sich sichtlich einsam. Fast sieben Monate wohnte auch die Mutter des Pfarrers in der Familie. Sie hatte große Schmerzen in der Hüfte. Nach vielen Arztbesuchen wurde sie im großen Kreisklinikum operiert und bekam eine neue Hüfte. Infektionen und anderen Beschwerden folgte eine unüberschaubare Odyssee durch viele medizinische Fachgebiete. Vieles erfahren wir an diesem Abend wieder über die Realitäten des rumänischen Gesundheitssystems.

Nicht zuletzt verschärft sich die Situation im ganzen Land durch die Abwanderung der vielen Ärzte in die westlichen Länder. Was einen Arzt nach dem Studium bei einem Gehalt von 300 - 400 Euro reizt im Land zu bleiben, wenn er in Österreich oder Deutschland weitaus mehr bekommt, ist schwierig zu analysieren. Mit dem Weggang jedes Einzelnen wächst das Problem. Auch Deutschland wirbt um anderswo gut ausgebildete Spezialisten, nicht nur im medizinischen Bereich, mit vielen Anreizen. Wir fragen uns, wie weit sich Egoismus zu Gunsten des eigenen Wohlstandes und auf Kosten anders entwickelter Länder und Systeme noch ausbreiten werden. Mit den Arztbesuchen, Krankenhausaufenthalten und Medikamenten der Mutter wuchs die Anzahl der Rechnungen, die - mit und ohne Quittungen - zu begleichen waren. Wenige Tage vor der Ankunft war dann die Mutter soweit genesen, dass sie Pfarrer Kovacs zurück nach Kronstadt (Brasov) bringen konnte, wo sie wohnt. Unser Zimmer im Pfarrhaus ist vorbereitet und jeder weiß, entsprechend der Gewohnheit, wo er schläft.

In den nächsten Tagen soll erledigt werden, was geplant ist. Auch ein Ritual ist der Spaziergang durch die Stadt bis zur Orthodoxen Kathedrale. Unterwegs bestellen wir in einer Konditorei eine Torte für die Kinder in Jimbolia, die wir morgen, am Samstag, besuchen wollen. Das große Bega-Kaufhaus lädt mit ausgeprägt westlicher Werbung zum Einkauf ein. Nicht deshalb sehen wir uns in den einzelnen Abteilungen ein wenig um. Vor allem interessieren uns die Preise in der Lebensmittelabteilung. Die Anzahl der Kunden hält sich die Waage mit der des Verkaufspersonals und die fast leeren Körbe berichten ohne Worte ausführlich über die Preisentwicklung. Das Personal unterhält sich hinter der Fleischtheke, dort steht sowieso niemand an, um etwas zu kaufen.

Nach dem Einkauf in einer Buchhandlung und dem Besuch der Kathedrale mengen wir uns unter die Besucher des Marktes. Frisches Gemüse, Obst, Honig, Nüsse, Gewürze, Petersilien- und andere Sträußchen werden uns angepriesen. An der Kleidung und dem Auftreten derer, die sich mühen zu verkaufen, ist oft ersichtlich, ob die Feld- und Gartenfrüchte importiert wurden oder nicht. Selbst erzeugter Honig wandert auch in unsere Beutel und noch eine Woche später erinnert sich der Mann an uns und fragt, wie uns der Honig geschmeckt hat. Aber solche Leute wie der Mann mit dem Honig sind auf dem Markt immer seltener anzutreffen, dank der gesetzlich geregelten EU-Gleichschaltung. Länder wie die Türkei, Griechenland und selbst Holland und Spanien bereichern die Märkte des so fruchtbaren, einstigen Agrarlandes. Die Sonne verwöhnt uns und wir sind froh, nicht ohne Sommerbekleidung losgefahren zu sein.

Am späten Nachmittag besuchen wir Frau Eva. Natürlich weiß sie von unserer Ankunft in der Stadt, die sie ziemlich einsam werden ließ. „Über achtzig Jahre zähle ich, was kann man noch erwarten?“ Fast zwei Drittel dieser Jahre brachte sie in dieser Wohnung zu, gemeinsam mit den Folgen der Kinderlähmung. Im Frühjahr konnte sie die halbe Runde um den Tisch noch laufen, nun hat sie keinen Mut mehr und auch keine Kraft. Sie freut sich über den Besuch, er bringt Abwechslung in das Grau ihrer Tage. Nach und nach gelingt es auch, sie ein wenig zum Lachen zu bringen. Das war das Ziel des Besuches für uns. Wir wissen, wie gern sie Schokolade isst, noch dazu mit Marzipan gefüllte - genau deshalb macht sie große Augen. Frau Eva verfolgt die Politik, auch wenn sie nichts mehr davon versteht, doch wer sollte das in so einer Situation? Aber sie hat sich gefreut und sogar gelacht, schon das hat unserer Reise einen Sinn gegeben. Wir verabschieden uns, Gott allein weiß, ob wir sie noch einmal antreffen werden.

Bei Pfarrer Kovacs beladen wir das Auto für den nächsten Tag, an dem der Besuch im Kinderheim in Jimbolia ansteht. Winterjacken, Schuhe, Spielsachen und Süßigkeiten für Weihnachten finden zwischen 35 Stühlen Platz. Die demolierten Holzstühle dort fielen uns beim Besuch im Frühjahr auf, sie sollen dieses Mal ersetzt werden.

Am Abend liegt der Kalender des nächsten Jahres vor uns. Es gilt, einen wichtigen Termin zu planen. Die Gemeinde feiert das 175-jährige Bestehen der Kirche. „Mir ist es wichtig, dass i h r da seid!“, betont Pfarrer Kovacs und deshalb suchen wir gemeinsam nach einem geeigneten Tag. Schon vor unserer Fahrt, eigentlich schon das ganze Jahr hindurch, bewegte uns die Frage nach Effizienz unserer Arbeit und der damit verbundenen Hilfe für die Menschen. Nicht immer ist der „Hilfstransport“ im klassischen Sinn, mit vielen Dingen, die übrig sind und die bei uns abgegeben werden, auch eine nachhaltige Hilfe. Natürlich wird, bis hin zu jedem Pullover überlegt, wohin er geht und in welchem Karton er verpackt wird. Doch genau das kostet, neben dem großen Aufwand an Kraft und Zeit, inzwischen auch viel Geld für den Transport. Immer findet auch das letzte Kleidungsstück noch einen dankbaren Abnehmer, aber mit dieser Summe kann auch gut die Ausbildung von Jugendlichen und Erwachsenen gefördert werden, die eine gute Grundlage für mehr Selbständigkeit bietet. Helfen wollen und helfen können ist nicht immer deckungsgleich. Jedoch liegt es an uns, die uns anvertrauten finanziellen Mittel sinnvoll, sprich effizient, einzusetzen. Wir sprechen mit Pfarrer Kovacs und seiner Frau darüber und sie verstehen es gut, dass wir aus solchen Gründen ab dem nächsten Jahr nur noch einen Besuch im Jahr planen. Sie verstehen es gut, dass wir keine Kleidung für Erwachsene mehr im Gepäck haben werden Also planen wir, den Festtag in der zweiten Oktoberhälfte des nächsten Jahres mit hoffentlich vielen Gästen zu feiern.

Der Samstag beginnt nach dem Frühstück mit dem Abholen der bestellten Kindertorte. Bunte Blumen und Schmetterlinge zieren die von einer Marzipandecke überzogene Schokotorte mit Kirschen. Die Kinder werden begeistert sein. Gegen 14 Uhr stehen wir vor dem Blechtor des kleinen Kinderheimes und begeistert empfangen uns die Schützlinge von Piroska und deren Schwester. Es tut gut, uns wiederzusehen, ihnen wie uns. Beim Ausladen ist der kleine Adam der Erste im Auto und zieht alles unter den Stühlen hervor, als hätte er das Auto mit beladen. Er ist inzwischen gewachsen und der Kleinkinderspeck weicht merklich. Wir bauen die Fahrräder zusammen und er fährt gleich los, auch wenn der Sattel unerreichbar hoch für ihn ist. Spielen mit den Kindern steht hoch im Kurs und immer erfinderischer werden alle Beteiligten.

Zwischendurch werden Kindertränen getrocknet und Piroska sucht krampfartig nach Worten, um ihre Dankbarkeit für unsere Unterstützung auszudrücken. Vom Geld, das wir im Frühjahr übergeben hatten, kaufte sie einen großen Kühlschrank und präsentiert ihn uns. Es sind so viele Kleinigkeiten, um die sie sich zu kümmern hat. Die Kunst ist es, dabei nicht das große Ziel aus den Augen zu verlieren, nämlich Kindern, die mehr erlebt haben als sie je verarbeiten können, ein Zuhause und nur dadurch eine Perspektive zu geben. Wer Kinder hat, weiß um die Aufgaben; sie hat 13 und dazu die ständige staatliche Kontrolle und die Probleme mit sozial wie intellektuell schwachen Eltern und Verwandten der Kinder. Allein der Glaube daran, dass Gott im Schwachen mächtig ist, ist das Geländer, an dem sie sich festklammert und das ihr den täglichen Mut für diese Aufgabe gibt.

Im Auto befinden sich noch zwei übereinander gestülpte Eimer, die wir am späten Nachmittag in den Hof holen. Jemand wollte Piroska eine Freude machen und hat sich erkundigt, wie das möglich wäre. Wir kennen ihre Vorlieben und haben von dem dafür vorgesehenen Geld zwei Rosen gekauft, die wir jetzt mit den Kindern einpflanzen. Wir freuen uns immer, wenn wir so gezielt angesprochen werden, hier ging es um Piroska, die auch in diesem Jahr die ersten Äpfel der Bäume ernten konnte, die wir in den vergangenen Jahren als Zeichen des „Miteinandertragens“ pflanzten.

Zum Abschluss des Tages erscheint die Torte. Die Kinder staunen mit offenem Mund und das Rätselraten beginnt, wer sie denn anschneiden soll. Adam steht natürlich in der ersten Reihe und bekommt auch das größte Stück, alle anderen sind damit einverstanden. Wie immer winken sie, bis das Auto mit uns verschwunden ist und wie immer ist es im Auto sehr ruhig bis nach Temeswar. Für den Winter sind die Kinder versorgt mit Strümpfen, Schuhen und warmer Kleidung und das soll sich auch im nächsten Jahr nicht ändern.

Mit Familie Kovacs genießen wir das absolut „cholesterolfreie“ Essen. Die kleine Runde ist gemütlich und es gibt immer viel zu erzählen und zu lachen. Am Sonntag feiern wir den Gottesdienst mit der Gemeinde. Gedanken zur Motivation unseres Dienstes bewegen uns, wir wissen uns beauftragt und auch mit jeder Fahrt neu geleitet. Perspektiven eröffnen sich für den, der sich von Gott angesprochen und gerufen weiß. Unabhängig von den Umständen und Schwierigkeiten, die uns alle umgeben, können wir innerlich und äußerlich aufstehen, um aus der Hoffnung dessen zu leben, der alles für uns gab.

Die Gemeinde bekommt nach dem Gottesdienst wieder eine finanzielle Spritze für anstehende Aufgaben. Die Liste ist lang, die auf Putz wartende Fassade des Pfarrhauses steht auch darauf. Bei Kaffee und Gebackenem erfahren wir mehr von den Einzelnen. Herr Helm kann nach mehreren Krankenhausaufenthalten wieder zum Gottesdienst kommen, auch wenn das Herz sehr schwach ist. Mihaelas Vater, dem wir im Herbst ein Hörgerät bezahlt haben, hört wieder die Vögel singen, er kann sich mit allen unterhalten und mit seinem Enkel spielen. Vieles hören wir noch von uns guten Bekannten, kaum jemand klagt, auch wenn der Alltag alles andere als rosig ist. Eine Sonntagssuppe zeigt die baldige Weiterreise an. Wir verabschieden uns aus Temeswar. Bei schönem Herbstwetter durchfahren wir Ortschaften, die sich mit Waldgebieten und einigen Bergkämmen abwechseln. Zwischendurch grasen wieder größere Schafherden als in den vergangenen Jahren. Die EU zahlt wohl jetzt pro Tier eine Subvention, erfahren wir. So werden die brachliegenden Flächen wenigstens genutzt. Dank der ausgebauten Verbindungsstraßen erreichen wir nach knapp drei Stunden Hunedoara.

Zwei Kilometer weiter erwartet uns Familie Filip in Racastia. Noch vor dem Dunkelwerden besuchen wir Familie Varga in ihrer Betonbaracke. Die Kinder warten herausgeputzt vor ihrem Zuhause. Petre, der Vater, ist so erkältet, dass er kaum sprechen kann. Eigentlich kennen wir ihn fast nur so. Maria, die Mutter, strahlt und lässt uns kaum los. Wir spüren ihre Freude des Wiedersehens, auch wenn es immer nur kurz ist. Lebensmittel, warme Kleidung, Schuhe, Schulsachen und natürlich Süßigkeiten für Weihnachten und manches mehr laden wir aus, es wird in den nächsten Wochen etwas leichter gehen. Viel springt bei dem Job von Petre als Wachmann in der kleinen Kneipe nicht heraus. Rahela, die Zweitjüngste, geht in der Stadt zu Schule, wo ab der 1. Klasse Englisch unterrichtet wird. Vor der ärmlichen Behausung entdecken wir unter der Folie vom Frühjahr und einem Maschendrahtgestell einige Hühner. Auch der kleine Garten hat etwas Gemüse gegeben, Reste sind noch erkennbar. Sie mühen sich eben entsprechend der Möglichkeiten. Genau das freut uns und deshalb helfen wir ihnen gern. Nach einer knappen Stunde verabschieden wir uns, es wird dunkel. Die Mahlzeiten der Familie werden in den nächsten Tagen etwas reichlicher ausfallen als gewöhnlich, sie winken bis wir unterhalb des Berges abbiegen.

Bei Alexandru sehen wir uns das neue Bad an, das komplettiert und nutzbar hergerichtet werden soll. Im Frühjahr erfolgte die Rohinstallation. Heute ist vom Boden bis zur Decke alles fertig gefliest und äußerst geschmackvoll hergerichtet. Er freut sich natürlich und kann den Stolz darüber nicht verstecken. Adriana wartet einige Häuser weiter mit dem Essen. Ihre gefüllten Eier und der Pilzsalat als Vorspeise sind genauso gut wie die Hühnerbeine des Hauptganges. Gern besuchen wir sie. Andrej ist nach seinem schweren Autounfall wieder genesen. Beide gehen ihrer Arbeit nach, der Sohn lernt im letzten Schuljahr zum Abitur.

Der nächste Morgen beginnt nach dem Frühstück mit der Arbeit in Alexandrus Bad, während sich die Frauen auf den Weg machen, um sich nach vielen Jahren endlich das große Schloss von innen anzusehen. Die Einrichtung hält sich in Grenzen. Doch es gibt ja noch die Stadt und die Anzahl der Geschäfte, in denen man Geld ausgeben kann, ist gewachsen. Viele Arbeitsplätze gingen mit dem Wegfall des riesigen Kombinates vor 14 Jahren verloren. Alexandru fährt täglich 12 -14 Stunden Taxi, das Ergebnis ist mehr als dürftig und reicht nur für das Allernötigste. Wird keiner krank oder braucht niemand Schuhe oder ähnliches, dann reicht es gerade für ein mageres Essen. Der Boiler und das Porzellan im Bad werden Stück für Stück montiert, Mischbatterien und Elektroleitungen angebaut. Alles funktioniert und für Familie Filip beginnt mit dem fertigen Bad ein neues Zeitalter.

Die Frauen sind auf dem Rückzug von ihrer Shoppingtour, wir beladen das Auto für die Weiterfahrt, als das Telefon von Alexandru klingelt. Es hat sich herum gesprochen, dass wir im Ort sind. Ein junger Mann, der krank ist, fragt an, ob wir helfen könnten. Er muss dringend nach Klausenburg ins Krankenhaus und ihm fehlt das Fahrgeld. Wir entscheiden uns für einen Besuch und fahren mit Alexandru hoch ins Dorf.

Am Ende des steilen, unbefestigten Weges treten wir in ein kleines Haus ein. Es gehört seiner Großmutter. Zusammen mit seiner Frau und der kleinen Tochter Rebeka bewohnt Cristi ein Zimmer. Ihre wenigen Habseligkeiten finden in einem schmalen Schrank Platz. Sparsam eingerichtet und sauber ist das Zimmer mit dem schrägen Fußoden. Der wichtigste Einrichtungsgegenstand ist der selbstgemauerte Ofen. Halb aufgerichtet in seinem Bett berichtet er uns von dem großen Krebsgeschwür, das von seinem Bein abgetrennt wurde. Nun sind beide Lungenflügel befallen. Bis vor der Operation arbeitete er auf dem Bau, sogar das große Dach des Corvin-Schlosses hat er bis zur Spitze mit neu gedeckt. Nach der Operation ging es nur bergab mit ihm. Er hatte mit seinen 32 Jahren weder Kraft noch Mut zum Leben. Sich mühsam neu aufrichtend meint er, dass es ihm jetzt besser geht. Die ersten Chemotherapien hat er überwunden, nun soll es in Klausenburg bald weitergehen. Der Termin dafür ist laut der Papiere längst überfällig. Sie bedanken sich für das Fahrgeld - wir legen einige Tage später, neben Süßigkeiten und Vitaminpräparaten, noch etwas dazu. Uns berührt ihre Offenheit, mit der sie uns berichten. Zur Verabschiedung wünschen wir uns gegenseitig ein Wiedersehen. Auch von Filips verabschieden wir uns, Alexandru begleitet uns nach Balanu. Solche Begegnungen wie die mit Cristi gehen unter die Haut. Nicht einmal die Möglichkeit zu haben, einen Arzt aufzusuchen, das bedrückt und daran ändert vorerst die Herbstsonne nichts.

Wir nähern uns den Bergen des Retezat. Auf den Gipfeln kündigen die ersten Schneefelder den Winter an. Verkaufsstände mit Herbstblumen säumen die Straßenränder in den kleinen Orten - nach einer Stunde rollen wir in Balanu ein. Wieder sind wir zu Hause und die herzliche Begrüßung von Cristina und ihrer Familie vertreibt die Bedrückung. Die LKW-Ladung steht gut sortiert in der Garage. Wir laden den Transporter aus. Lebensmittel und Süßigkeiten füllen in den nächsten Tagen die Speisekammer, die uns bei Ankunft mit gähnender Leere anstarrt. Decken, Matratzen, Federbetten, Drogeriewaren und Schulmaterial finden Platz auf dem geräumigen Dachboden des Hauses. Der Weg dort hoch verlangt Aufmerksamkeit, denn noch ist die Treppe ohne Geländer und sechs Meter tief zu stürzen hätte schlimme Folgen.

Beim Abendessen überbringen wir, nach den gefüllten Kartons, die vielen Grüße. Angelut, Cristinas Mann hat jetzt auch einige Tage Urlaub, wie er sagt. Der Ertrag der Blaubeersaison in den Bergen war nur mittelmäßig. Wir rechnen und das Ergebnis ist ernüchternd: Ungefähr acht Euro bleiben nach einem 15-Stunden-Tag übrig - natürlich nur, wenn es Beeren gab. Wenn nicht, müssen sie durch die Benzinkosten draufzahlen. Bei Gelegenheitsarbeiten im Forst bleibt etwas mehr übrig. Sie nehmen jede Möglichkeit an, um ein wenig Geld zu verdienen. Viele der Bewohner des Ortes sind im Ausland unterwegs. Wir planen die nächsten Tage, bevor wir dann ziemlich müde in die Betten sinken.

Am nächsten Morgen sortieren wir die Werkzeuge, denn ein Geländer soll auf der Treppe des Hauses zum Dachboden Sicherheit gewährleisten. Wir teilen uns in die Arbeiten und sägen, schleifen, bohren, streichen und schrauben. Es soll stabil sein und vor einem Fall schützen. Es ist wie im Leben.

Alle Vorhaben der vergangenen 15 Jahre in Rumänien waren für uns oft ein Vorantasten. Nicht ohne Gefahren für uns oder andere haben wir dem Geländer des Glaubens vertraut und dabei festgestellt, dass der „Konstrukteur“ vertrauenswürdig ist. Im Vertrauen darauf, dass dieses „Geländer“ auch bei Dunkelheit hält und einen Absturz verhindert, gingen wir oft Schritte, die nicht planbar waren. Besonders hier in Balanu, aber auch an vielen anderen Stellen und bei Begegnungen hat sich gezeigt, wie viel Segen geschehen kann, wenn wir nur etwas Mut zeigen, Dinge anzupacken. Die Lebensbedingungen und Chancen für viele Menschen haben sich in den letzten Jahren, mitunter gravierend, verändert. Mit diesen Bedingungen sind unsere Freunde und Bekannten gewachsen. Aus verängstigten, oft deprimierten Menschen sind heute Leute geworden, die Pläne haben. Viele von ihnen sehen in den veränderten Lebensbedingungen Chancen. Sie entdecken den Willen zur Veränderung für sich und andere. Oft können sie nur kleine Schritte gehen, aber sie wissen um Führung und Segen dabei. Oft folgen einem ersten Schritt zwei größere. Das zu erleben war für uns Motivation, mit ihnen zusammen einen Weg zu gehen. Balanu hat sich so verändert, wie wir es noch vor zehn Jahren nicht zu hoffen gewagt hätten. So wurden wir zu Zeugen, wie aus einer Vision eine Realität erwächst. Uns an unserem „Geländer“ entlang tastend, sehen wir das im Rückblick von Mal zu Mal deutlicher. Natürlich gibt es noch genug „Baustellen“, in Balanu und an anderen Orten. Viele Menschen, aus unserer näheren Umgebung oder aus ganz Deutschland, haben sich einladen lassen, an diesem Werk mitzuarbeiten. Wir wünschten, sie könnten, jeder für sich, erkennen und miterleben, welcher Segen daraus erwachsen ist. Unser Geländer bekommt den letzten Anstrich und ab sofort erreicht jeder den Dachboden des Hauses mit erhöhter Sicherheit.

Auf der Straße hören wir die Kinder spielen und toben. Jeder will dabei sein. Sie genießen es, dass wir da sind und fordern uns geradezu heraus, uns sich ihrer anzunehmen. Wir hingegen fordern, dass es dabei gesittet zugeht und sich Zornausbrüche in Grenzen halten. Catalin liegt, nach dem Flug über den Fahrradlenker und die Leitplanke, mit gebrochenem Arm noch im Krankenhaus. Drei seiner Geschwister sind natürlich mittendrin. Ihre Eltern haben mit sich die größten Probleme, so dass die Kinder oft auf sich allein angewiesen sind. Am Nachmittag kaufen wir in Hateg Lebensmittel ein: Gemüse, Fleisch, Eier und Milch. In der Küche wird dann bis zum Abend geschnitten und vorgekocht.

Der neue Tag beginnt mit dem Besuch in der Schule. Dort vereinbaren wir mit den Kindern ein Treffen am Nachmittag. Der Lehrer beklagt wiederholt, dass die Kinder oft fehlen. Die vierte Klasse wird jetzt im Nachbarort unterrichtet, da die Klassenstufe Null des rumänischen Schulsystems nach einem Jahr Verspätung auch bis Balanu vorgedrungen ist. Die Kleinen schreiben Linien und Gehstöcke - die pädagogischen Ansätze des Personals erweisen sich, ebenso wie der Schulbesuch der Kinder, als entwicklungsbedürftig. Aber es ist natürlich für beide Seiten ein raues Klima, so abgelegen in den rumänischen Bergen. Spielzeuge und Süßigkeiten lassen die Gesichter leuchten.

Am Nachmittag treffen wir uns in der Kirche. Ungefähr fünfzig Kinder und einige ihrer Mütter hören davon, was es heißt, nicht nur für sich allein zu sorgen. Gerade in ihrer Mangelwirtschaft ist es wichtig, den Blick zum Nachbarn zu wagen. Sie singen und strahlen dabei, wie die neue Kirche und ihr Singen kommt tief aus den noch jungen Herzen. Danach geht’s rüber zum gemeinsamen Essen. Gulasch und Krautsalat stehen hoch im Kurs. Man ahnt, angesichts mancher Portionen, wann sie das letzte Mal Ähnliches vor sich hatten. Alle sind eingeladen und jeder darf essen bis er oder sie satt sind. Zum Abschied gibt’s den Schokopudding im Plastikbecher mit nach Hause. Nach zwei Durchgängen mit knapp achtzig Portionen ist fast alles aufgegessen. Einige Mahlzeiten bringen Cristinas Kinder ins Dorf.

Wir fahren ins Nachbardorf zu Liviu, dem ehemaligen Buchhalter. Sonst versorgt Cristinas Vater den physisch und psychisch Kranken mit Lebensmitteln. Er weiß nicht, dass wir kommen und freut sich sichtlich, uns zu sehen. Schnell wird deutlich, dass die letzten Jahre seines Lebens ohne jedes Geländer für ihn verflossen sind. Angelut schafft es nicht, das Essen in seine Hütte hineinzutragen Uns gelingt es dann nur mit sehr viel Mühe und Luftanhalten. Wieder erzählt er von seinen Unfällen und dem Alleinsein. Wir denken an die Versorgung Pflegebedürftiger in Deutschland. Hier tun sich Abgründe auf und - weit abgeschlagen von jeder Vorstellung - existiert dieser Mensch im Abgrund. Auch für uns beginnt der Boden zu wanken bei dem Gedanken, dass er sicher nicht der Einzige im Land ist, den man so, jeder Würde entzogen, vergessen hat. Mindestens etwas zu essen bekommt er für heute, mehr ist uns nicht möglich. Dank einer Spende kann Cristina die Versorgung des Mannes mit Essen für die nächste Zeit realisieren. Zu Hause haben die Frauen die Spuren der achtzig Gäste beseitigt. Geschirr und Boden glänzen, wir essen vom Rest.

Am nächsten Tag steht Alexandrus 50. Geburtstag auf dem Kalender. Der Wetterbericht verspricht weiterhin einen sonnigen Herbsttag und wir beschließen, mit ihm einen Ausflug in die Berge zu unternehmen. Lacul Bucura, See der Freude, heißt das Ziel am nächsten Morgen. Wir fahren zur Staumauer und nach einer weiteren Fahrtstunde auf schmalem Gebirgsweg lassen wir das Auto zurück. Die Urwüchsigkeit der Karpaten umgibt uns und stellt uns die Schönheit ihrer Täler und felsigen Höhen vor Augen.

Angelut hat die Führung übernommen, das beruhigt. So ist das: Mal erklären wir etwas, heute ist er derjenige, der sagt, wo es entlang geht. Gemeinsam sind wir unterwegs, wie bei allem, was wir in diesem so schönen Land unternehmen. Wir sind aufeinander angewiesen und gut beraten, das zu respektieren. Angelut zeigt uns weit entfernte Berge, in denen er sonst Blaubeeren pflückt. Beim Gedanken daran wird uns noch wärmer, als uns schon ist. Stück um Stück steigen wir höher, nach Luft ringend, denn die wird schon dünner. Kein Bär oder Wolf halten uns dabei auf, schade. Die Frage derer, die von oben herab kommen, wie viele Nächte wir oben bleiben wollten, macht nicht gerade Mut zum Weitersteigen. Ein weiteres, steiles Geröllfeld vor uns betrachtend, überlegen wir, ob wir nicht umdrehen sollten. Doch eine Rast gibt Kraft und weiter geht’s aufwärts. Hinter dem Rand des Hanges liegt der Freudensee vor uns und nimmt uns den Atem beim Staunen.

Ein Schild zeigt, dass wir auf 2040 m Höhe vor dem größten rumänischen Bergsee stehen. Kurz vor dem Ziel aufgeben? Wer weiß, wo das Ziel ist? Wie viele Geröllfelder oder bequeme Wege vor uns liegen, wie viele Wegstrecken sind zu bewältigen? Am See der Freude angekommen, stehen wir vor den normalen Fragen unseres Lebens, heute haben wir ein Ziel erreicht. Doch was wird morgen und später? Wir waren gut beraten uns dem anzuvertrauen, der Bescheid wusste - wagen wir es einfach täglich aufs Neue. Klares Wasser aus dem See und Schokolade aus dem Rucksack bringen Energie zurück und nach einer Stunde brechen wir auf. Wir lassen den See der Freude hinter uns und sind um eine wunderschöne Erfahrung reicher.

Etwas später als geplant sitzen wir beim Abendessen mit Cristina und ihren Angehörigen am Tisch. Dank des neuen Hörgerätes kann sich ihr Vater wieder gut mit uns unterhalten. Auch das konnten wir im Frühjahr noch bezahlen. Ohne den Apparat kann er kaum noch etwas hören. Wir erzählen vom Tag und vom erreichten Ziel. Immer wieder berichtet auch Alexandru, wie schön es war: „Nie hätte ich geglaubt, dorthin zu kommen, wovon ich in Schulbüchern gelesen habe.“ Der Tisch war reich gedeckt, Cristina hatte auch das Tagesziel erreicht. Zwei Torten beschließen das Essen an Alexandrus Geburtstag. Noch lange erzählen wir bis in die Nacht hinein, übergeben Spendengelder für die Sozialküche, die Ausbildung, für die Frühstücksbrote der Schulkinder, für Livius Essen und manches andere der vielen Probleme. Wir sind dankbar helfen zu können durch die Vielen, denen diese Menschen am Herzen liegen. Irgendwann entscheiden wir uns, schlafen zu gehen.

Mit den neuen Morgen beginnt die Rückreise. Wir verabschieden uns mit einem etwas größeren Kloß im Hals, denn im Frühjahr werden wir uns nicht treffen. Ausführlich haben wir auch hier das Thema der Kleidung für Erwachsene besprochen und festgestellt, dass es wichtigere Probleme gibt. Aufwand und Effizienz müssen bedacht sein und wir entscheiden uns für Letzteres. Die Reisen vor dem Winter sind wichtiger und dabei wird es, so Gott will, bleiben.

Wir bringen Alexandru nach Hause und stehen drei Stunden später wieder vor dem Pfarrhaus in Temeswar. Wir sollen erzählen - doch womit beginnt man? Auch an dieser Stelle gäbe es weitaus mehr zu berichten: über Cristinas soziale Arbeit mit den Familien und Kindern, über ihre Mitarbeit im Elternrat der neuen Schule im Nachbardorf, über ihre Ausbildung und die ihrer Kinder, die auch für ein weiteres Jahr gesichert werden konnte, über viele Fragen, angesichts dessen, was uns am Rande Europas im doppelten Sinn, begegnete und bewegt. Familie Kovacs hört gut zu. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen und treten am nächsten Morgen die Rückreise nach Deutschland an. Wieder legten wir ein gutes Stück unseres Weges zurück, gemeinsam mit unseren Freunden. Geländer zu bauen bedeutet Vertrauen und Sicherheit zu geben - Geländer weisen sichere Wege zum Ziel, nicht nur auf Bodentreppen.

„Ist alles gut gegangen mit der Fahrt?“, so werden wir zu Hause gefragt und begrüßt. Wir sind dankbar, alle dessen versichern zu können, die es interessiert. Wir freuen uns, dass Sie alle mit Ihren Spenden all das Berichtete und Ungesagte ermöglichten, ja „dabei“ waren und mit uns auf dem Weg sind.

Dank in richtige Worte zu fassen fällt nicht leicht, den Freunden ebenso wenig wie uns. Doch seien Sie gewiss, dass wir es Ihnen gemeinsam aus ganzem Herzen sagen. Nach 15 Jahren werden wir nur noch einmal jährlich nach Rumänien fahren, aber es ist gut bedacht und wohl erwogen. Wir werden dadurch unserem Auftraggeber und unseren Freunden und Partnern nicht untreu. Wir vertrauen dabei auch auf Ihr Verständnis und Ihre Treue mit Hinblick auf diejenigen, die auf weitere Wegbegleitung hoffen. Auch das wurde in den Gesprächen deutlich. Das Ziel liegt noch vor uns. Wir sind froh, auf dem Weg nicht vorher aufgegeben zu haben, denn wir hätten den „See der Freude“ nicht erreicht.

 

Mit einem herzlichen Dank grüßt Sie der

Arbeitskreis Rumänien – Albrecht Feige 

 

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