Reisebericht 2023
Erfahrung durch Begegnung
Unsere diesjährige Reise nach Rumänien liegt bereits einige Monate zurück. Jede und jeder von uns, die dabei waren, geht wieder in gewohnter Umgebung seinen Aufgaben nach. Vieles stürmt auf uns ein. Manches strengt an, fordert heraus, drückt oder bedrückt sogar. Unsere Welt verändert sich, ob wir es wollen oder nicht. Was bisher stabil schien, beginnt zu wanken, in der Politik wie im Privaten. Wir bemühen uns dran zu bleiben, wo es nötig ist und sich lohnt. Preise steigen unwiederbringlich, trotz manch anderweitiger Versprechungen. Wir hören und erleben Worte wie Klimaveränderungen, Migration und Einwanderung, Krisen und Kriege. Wie unterscheiden wir Wahres von Fake-News? Was gibt uns Halt? Wie finden wir unsere Position und was ist uns wichtig? Das sind Fragen, die Antworten brauchen.
Seit nunmehr 25 Jahren sind wir als Arbeitskreis in Rumänien unterwegs. Wer sich erinnert stellt fest, es gab immer wieder Ereignisse, die während dieser Zeit unser Engagement herausforderten oder in Frage stellten. Anfangs trafen wir oft auf die Frage, warum wir das tun. Später wandelten sich die Fragen dahin gehend, ob es denn noch Sinn mache, was wir tun. Aber immer gab es auch die Stimmen, die meinten, wir hätten doch wohl bei uns und mit uns genug Probleme zu lösen. Letztendlich jedoch sollten nach allem Philosophieren und Überdenken eindeutige Entscheidungen folgen. In allem Gottvertrauen wissen wir um unseren Auftrag, um das Wort Berufung nicht zu überstrapazieren. Wir wissen uns beauftragt und in der Rückschau gewinnen wir die Kraft und Hoffnung, um mit Mut und Zuversicht voran zu gehen. Das gilt sowohl für jeden neuen Tag in unserem privaten Umfeld, als auch im Blick auf unseren Weg mit den Freunden und Geschwistern in Rumänien. Vieles konnte in der Vergangenheit bewegt, errichtet und erreicht werden. Neue Projekte lösten erledigte Aufgaben ab.
Eines jedoch bleibt: Menschen bekamen Hoffnung, waren erstaunt plötzlich Hilfe zu erhalten, wurden Partner und Freunde. Manchmal geschah es punktuell, manchmal über Jahre hinweg. Jedoch sehr häufig erfuhren sie, dass Gott Gebete erhört, ihre Gebete. Wir hören und staunen – gehen mit ihnen ein Stück und dann auch weiter.
Nach jeder dieser Reisen beginnen die Vorbereitungen für die kommende. Warum? Wir treffen auf Einzelne oder Familien, deren Nöte und Bedürfnisse uns nahe gehen. Wir lernen zu teilen. Weiterzugeben, was uns geschenkt ist, hat uns reicher gemacht, auch hinsichtlich der Hoffnung und Erfahrung, nicht allein auf dieser Welt gelassen zu sein. Und so bereiten wir vor, sammeln Spenden und Hilfsgüter, die uns dankenswerter Weise angeboten werden. Sammeln – packen – einladen – losfahren, so auch in diesem Jahr.
Im März erreichte uns die Nachricht, dass eine kinderreiche Familie durch ein verheerendes Feuer ihr Zuhause verloren hat. Dieser Umstand prägte einen Teil der Vorbereitungen. Dank der Aktion „Hoffnung für Osteuropa“ und verschiedener Einzelspenden konnten wir schon im Vorfeld bei der Finanzierung von Baumaterialien unterstützen. Elektromaterialien und Haushaltsgegenstände vom Löffel bis zu Haushaltsgeräten für die Familie, Schuhe, Kleidung, Fahrräder und die immer wichtigen Lebensmittel und Drogeriewaren – die Lastgrenze des Transporters ist „mindestens“ erreicht, als wir am Morgen des 10. Mai in Richtung Rumänien aufbrechen. Zu viert werden wir die nächsten neun Tage unterwegs sein und sind neugierig auf das vor uns Liegende.
Die Reise verläuft reibungslos und immer wieder dankbar dafür passieren wir die enge Zufahrt zum Pfarrhaus in Temeswar nach 14 Stunden. Wir treffen bei der Pfarrfamilie Kovacs als alte Bekannte auf große Herzlichkeit. Alles fühlt sich an, als wären wir erst gestern abgereist und kommen heute zurück. Beim Abendessen sind wir schneller als sonst beim aktuellen Geschehen, das Rumänien merklich prägt. Der Krieg im Nachbarland hinterlässt nicht nur in Deutschland seine Spuren. Die Teuerung, vor allem die der Energie-, Kraftstoff- und Lebensmittelpreise, veranlasst noch mehr gut ausgebildete Fachkräfte zur Ausreise. In vielen Familien fehlen Elternteile oder nicht selten Mütter und Väter, die als Saisonarbeitskräfte mehrere Monate oder länger im Jahr im Ausland den Lebensunterhalt für die Familie verdienen. Das ohnehin gebeutelte Sozialgefüge bekommt noch mehr Risse und die ersten Leidtragenden sind natürlich die Kinder und Jugendlichen.
Temeswar ist in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt und präsentiert sich, neben vielen kulturellen Events, auch punktuell äußerlich als solche. Wir genießen beim Stadtrundgang die Sonne und das Flair dieser Stadt, die uns schon so heimisch erscheint. Trotz der Events stehen viele der kleineren Geschäfte leer oder haben neue Besitzer gefunden. Erste Postkarten gehen auf Heimatreise.
Wir holen Roza aus dem Krankenhaus ab. Nach einer Schilddrüsenoperation ist die Küsterin aus Bodo froh, den riesigen Spitalkomplex verlassen zu können und uns unerwartet zu sehen. Die OP verlief gut und sie sprüht förmlich vor Lebensfreude. Bald fährt der junge Pastor aus Bodo vor, um sie nach Hause abzuholen. Wir werden uns sicher in wenigen Tagen treffen.
Satu Nou ist ein Dorf im Kreis Arad, knapp zwei Autostunden von Temeswar entfernt. Im Vorfeld unserer Reise erfuhren wir von der dortigen Evangelischen Kirchgemeinde. Der Pastor sammelt viele Kinder und Jugendliche um sich, auch aus umliegenden Dörfern. Wir hatten telefonischen Kontakt. Der Besuch dort ist geplant, um von der sozialen Arbeit des Pastors näheres zu erfahren.
Das Dorf wurde, wie viele solcher Orte, zum Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Die Anordnung der Straßenzüge gleicht einer Arbeit auf dem Reißbrett. Pastor Kovacs begleitet uns. In der Ortsmitte winkt uns der Pastor auf der Straße heran. Hinter der kleinen, alten Kirche schließt sich das Pfarrhaus an. Er begrüßt uns auf Deutsch und bittet uns herein. Der angebaute, mit großen Glasfenstern ausgestattete Flur ist gleichzeitig unübersehbar das Arbeitszimmer. Wir nehmen im Wohnzimmer Platz. Seine Frau lehrt nebenan in der Grundschule. Im Anschluss gibt sie dort für interessierte Kinder Gitarrenunterricht. Der Pastor ist ebenfalls auch als Lehrer in der Schule tätig, doch heute hat er frei. Die beiden eigenen Kinder besuchen das Gymnasium.
Das Wohnzimmer dient gleichzeitig, so berichtet er, als Jugendraum, man trifft sich zu Gemeindeveranstaltungen oder hält darin die Treffen des Gemeindekirchenrates ab. Einen extra Raum für solche Veranstaltungen gibt es nicht. Wir hören von seinen zahlreichen Einsätzen mit Jugendlichen. Sie kümmern sich um ältere Gemeindeglieder, besorgen und hacken ihnen das Feuerholz, erledigen Einkäufe oder fassen zu, wo und wann es nötig ist. Der Pastor organisiert die Arztbesuche und fährt die Leute dorthin. Oft ist es mühsam, alles fast gleichzeitig zu bewältigen, denn auch in Satu Nou hat der Tag nur 24 Stunden und die Kassen sind meist leer.
Er führt uns in die kleine Kirche auf dem Grundstück. Alles darin ist eine Nummer kleiner als das uns Bekannte. Es ist ein alter Lehmbau, die meisten Ecken sind daher rund. Die Sauberkeit des Kirchenraumes und die offene und freudige Art in den Worten des Pastors zeugen von seiner Liebe und Begeisterung, die er in seinem Dienst genau an diesem Ort findet.
Weiter hinten im engen Hof steht ein zweigeschossiger Rohbau. Seit zehn Jahren bemüht sich der Pastor ein Gemeindehaus zu errichten. Es geht nur langsam voran. Oben sollen Gästezimmer entstehen, unten Räume für die Gemeindearbeit. Der Baufortschritt ist abhängig von der Gewährung beantragter Projektmittel. Es schleppt sich hin, doch er gibt nicht auf. Sie erhalten Kleiderspenden, die Dinge stapeln sich unübersehbar. Unterstützung sollte sich nach unserer Ansicht und Erfahrung auch am Bedarf ausrichten. Hinter dem Bau erstreckt sich ein Gartengrundstück, an dessen Ende große Folienzelte stehen. Die Familie versorgt sich, so gut es eben geht, selbst und gibt vom Ertrag des Gartens Bedürftigen ab. Wir gehen mit ihm ins Dorf.
Kleine Häuser säumen die schnurgeraden, rechtwinklig angeordneten Straßen. Am Rand des Ortes wollen wir eine Familie mit fünf Kindern besuchen. Die Mutter erwartet uns. Nur eine Tochter ist zu Hause, die anderen besuchen noch die Schule und der Mann hat wieder einen Job. Sie bittet uns herein. Der einzige Wohnraum des kleinen Hauses ist gleichzeitig für die Kinder der Schlafraum. Zwei schlafen mit Matratzen auf dem Boden. Ansonsten stapeln sich in den zwischen Betten oder Schlafgelegenheiten stehenden Regalen die Schulsachen. Alles ist sehr übersichtlich, um es vorsichtig zu beschreiben. Die Familie ernährt sich hauptsächlich vom Ertrag des Gartens. Die gestiegenen Stromkosten drücken noch heftiger als früher. Wir wollen uns einen Eindruck von Leben im Ort verschaffen und begeben uns ans andere Ende des Dorfes. Auf unsere Nachfragen hin hören wir wiederholt davon, wie der Pastor mit den Jugendlichen ganz konkret bemüht ist, helfend einzugreifen, wo es nötig ist.
Wir sind auf dem Weg zu einem älteren Herrn, der allein auf sich angewiesen ist und unter schwierigen Verhältnissen lebt. Eine Gardine bedeckt den Hauseingang, er kann nicht heraus kommen. Das Zimmer übertrifft alle Erwartungen; nach und nach erkennen wir im vom Rauch und Ruß geschwärzten Raum die Einzelheiten. Mühsam steht er auf. Er versteht überhaupt nicht, wieso wir uns als Fremde für ihn interessieren. Sofort beginnt er, sich für sein Umfeld entschuldigend, uns von seinem Leben mit allen Katastrophen zu berichten. Nach dem Tod seiner Frau brachte ihn letztlich der Bruder ums Erbe des elterlichen Grundstücks. Kinder konnte die Frau nicht bekommen und der gesundheitliche Zusammenbruch folgte dem psychischen, unübersehbar. Seine einzige Beschäftigung, der er von seinem Stuhl aus nachgehen kann, ist die mit seinen Katzen. Doch sie erledigen auch alles was zu erledigen ist in diesem Raum. Ob das noch ein Leben ist, fragen wir uns. Er hält große Stücke auf den Pastor, sorgt er doch dafür, dass er die Einkäufe ermöglicht, dass Holz gehackt wird und er Wasser bekommt, denn das hat er auch nicht auf dem Grundstück. Immer wieder kommen dem Mann die Tränen, wenn er beginnt, über sein Leben laut nachzudenken. Die meisten Jahre seines Lebens arbeitete er hart in Kohleminen. Nach dem Zusammenbruch des Systems 1990 fand er eine Anstellung als Kellner in der Stadt, bis das Restaurant nach einigen Jahren den Betrieb aufgab. Seitdem ging es nur bergab - mit dem Job, mit der Familie, mit der Gesundheit und mit ihm selber. Immer wieder fragt er weinend, warum wir uns interessieren. Wir reden vom Besuch beim Pastor und davon, dass wir ihm helfen wollen, seine Hilfe weitergeben zu können. Tief berührt verabschieden wir uns.
Was braucht es mehr um überzeugt davon zu sein, wie wichtig an solchen oder ähnlichen Stellen jeder noch so kleine Beitrag unsererseits sein kann. Hier sind nur verbale Ermutigungen zu wenig, das ist schnell klar. Es braucht die Hilfsbereitschaft vor Ort. Sie ist da und das wollen wir, so gut wie möglich, fördern. Der Pastor kann sich nur innerhalb seiner Möglichkeiten bewegen. Wir erweitern ihm den finanziellen Rahmen, zutiefst davon überzeugt, dass er verantwortlich handeln wird. Noch im Herbst soll der Mann einen Brunnen bekommen, damit er wenigstens über einen Zugang zu frischem Wasser verfügt.
Unsere Fahrt geht zurück nach Temeswar, währenddessen sich die Bilder und Eindrücke in uns förmlich festkrallen. Wie ist es möglich, dass es heute noch solche Verhältnisse in Europa gibt? Wie ertragen es diejenigen, die gehandicapt heute nur noch warten, was das Morgen bringt, ohne den Hauch einer Veränderung erwarten zu können? Das Wenige, das wir dagegen zu setzen vermögen, wollen wir nicht vergessen zu tun.
In Temeswar wechseln wir die letzten LED-Lampen im großen Kronleuchter der Kirche und bereiten den Gottesdienst für den kommenden Tag vor.
Die Zusammenkunft mit der Gemeinde im Gottesdienst am Sonntag gehört schon lange zum festen Programm, bevor wir kurz danach in Richtung Bodo abreisen. Die Tage waren geprägt von Gesprächen, die um den beschwerlicher gewordenen Alltag kreisen. Doch es ist kein Jammern, auch wenn es uns beim Hören oder Sehen manchmal danach ist. Wir sind miteinander auf dem Weg und das ist in jedem Moment der gemeinsam verbrachten Zeit zu spüren. Viele Dankesgrüße für Empfangenes aus Gegenwart und Vergangenheit begleiten uns in der Hoffnung auf ein gesundes Wiedersehen.
In Bodo werden wir erwartet. Der junge Pastor freut sich und hilft gerne beim Ausladen. Nach einem kurzen Kaffeetrinken fahren wir ins Nachbardorf Cladova, wo die eingangs erwähnte Familie ihr Zuhause durch einen Brand verloren hat. Annamaria, die junge Frau aus dem Kirchenvorstand in Bodo, hatte uns die Nachricht im März übermittelt. Im Auto liegen neben Lebensmitteln, Federbetten, Decken und Haushaltsgegenständen auch Elektromaterialien. Die Eltern und ein Teil der Kinder begrüßen uns. Der Rohbau des neuen Hauses steht bereits, dank der Erfahrung des Vaters und der größeren Söhne im Baugewerbe. Wir staunen über die Qualität und die Schnelligkeit, in der sie das bisher erreicht haben.
Im Hof betreten wir in einem separaten kleinen Haus die unversehrt gebliebene Küche und machen uns bekannt. Keiner weiß so richtig, warum das Haus Feuer gefangen hat. Vermutlich gab es einen Funkenflug vom Nachbarn, ganz genau kann es niemand sagen. Sie verstehen sich gut und es gibt keinerlei Beschuldigungen. In allem Geschehen wissen sie sich im Glauben getragen und sind dankbar dafür, dass sie alle gesund das Haus verlassen konnten. Nochmals übergeben wir Geld für Baumaterialien, was einen reichen Tränenfluss auslöst. Wir erhalten die erforderlichen Quittungen. Im Haus hat ein befreundeter Elektriker bereits mit der Arbeit begonnen. Kurze Zeit später fährt er vor. Er ist mit den rumänischen Standards der Installation bestens vertraut und will alles kostenfrei für die Familie ausführen. Das ändert unseren Plan, darauf waren wir nicht vorbereitet. Wir dachten, die nächsten Tage ziemlich intensiv genau damit beschäftigt zu sein. Doch wir wollen uns nicht vordrängen. Er bekommt die mitgebrachten Materialien, ist darüber sehr erfreut und zumindest teilweise entschädigt. Für uns bedeutet es Freizeit. Die Familie bedankt sich unaufhörlich für die unerwartete und umfangreiche Hilfe. Immer wieder lädt sie uns ein.
Heute verabschieden wir uns und treffen in Bodo auf Annamaria. Sie berichtet von einem Vater, der mit dem kranken Sohn im Nachbarort lebt. Sein kleines Haus brannte vor zwei Jahren auch komplett ab. Bekannte einer Adventgemeinde sorgten dafür, dass für beide ein kleines Haus an dieser Stelle gebaut wurde. Sie verdienen sich ihren „Lebensunterhalt“ mit dem Hüten einiger Kühe. Der Vizebürgermeister hat auf die Beiden aufmerksam gemacht. Bis heute verfügen sie weder über Wasser noch Strom. Wir verabreden einen Termin und der Vizebürgermeister begleitet uns. Er gehört zu den wenigen Amtspersonen, die einen Blick auf solche Menschen haben und ist ein Mann der Tat, ohne viele Worte darüber zu verlieren.
In dem kleinen Dorf Fadimac, kurz vor Bodo gelegen, biegen wir von der Hauptstraße ab und lassen das Fahrzeug am Rand einer großen Wiese stehen. Entlang der Rückseite einiger landwirtschaftlich geprägten Grundstücke, die einen desaströsen Anblick bieten, gelangen wir durchs Gras, vorsichtig auf die Hinterlassenschaften von Kühen achtend, zu dem kleinen, neu gebauten Haus. Vater und Sohn erwarten uns.
Wir sind bei ihnen als „Sozialkommision“ vom Vizebürgermeister angekündigt worden. Als wir uns nach ihrem Befinden erkundigen, berichten sie von der Operation eines Hirntumors des Sohnes. Mit seinen gut zwanzig Jahren ist er von der Krankheit gezeichnet. Sein Äußeres deutet nicht auf eine Gesundung hin. Auch psychisch angeschlagen, lebt er in Ängsten. Man spürt, dass sich beide einander Halt geben. Sie bitten uns ins Haus. Fliesen bedecken den Boden, einige gespendete Möbelteile deuten mehr auf den Mangel als auf eine Wohnung hin. Glühlampen und Steckdosen weisen auf die elektrischen Leitungen hin, auch wenn kein Anschluss ans Energienetz vorhanden ist. Trotz des neuen Hauses ist es ein erbärmlich armseliges Dasein, das beide hier führen. Für ihre Tätigkeit beim Vieh der Dorfbewohner springt nur wenig raus. Auf eine weitergehende ärztliche Untersuchung angesprochen, spüren wir die Ängste des Sohnes davor. Er lässt sich nicht überzeugen und ist sich sicher, nach einem weiteren Krankenhausaufenthalt nicht wieder nach Hause zu kommen. Das ist für uns alles andere als ermutigend.
Nach dem Besuch reden wir über die Möglichkeiten und Bedingungen für einen Strom- und Wasseranschluss. Die Entfernung von den Anschlussmöglichkeiten beträgt annähernd 150 Meter. Die anfallenden Anschlusskosten muss der Antragsteller übernehmen, was in diesem Fall jenseits aller Realitäten ist. Im Ergebnis unseres Gesprächs kümmert sich die Kommune um die Ausführungen und wir übernehmen die Materialfinanzierungen. In einem entsprechenden Graben soll beides bis zum Haus verlegt werden. Das persönliche Engagement des Vizebürgermeisters überzeugt uns schnell. Er verspricht, alles zu organisieren. Was das hauptsächlich an Bürokratie bedeutet, ahnen wir. Mit Annamaria besprechen wir eine monatliche Zuwendung für Lebensmittel, die beiden Männer betreffend.
In den kommenden Tagen treffen wir sie nicht zu Hause an, lassen aber noch einen ordentlichen Einkauf an einem alten Rinneisen katzensicher hängen. Es bedrückt uns massiv, solche Verhältnisse an so vielen Stellen immer wieder vorzufinden. Dennoch ermutigt das gemeinsame Wirken mit verlässlichen Partnern vor Ort. Es zeugt von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen. Sicher sind solche Aktionen, global gesehen, nur von minimalistischer Bedeutung und doch stellen sie für Einzelne einen immensen Fortschritt dar. Bisher mussten die beiden Männer das Wasser in Gefäßen aus einer Entfernung von über 300 Meter heran holen und im Kerzenschein abends ihren Alltag gestalten. Wir freuen uns, solche elementaren Erleichterungen realisieren zu können. Warum sollten wir ihnen und in ähnlichen Verhältnissen nicht helfen, wenn wir es doch vermögen?
In den kommenden Tagen besuchen wir noch einige ältere und kranke Leute in Bodo. Ihre Geschichten unterscheiden sich; die Bilder von ihnen ähneln einander. Krankheit gehört nicht ins Lebenskonzept und bedeutet meist den sozialen Absturz in diesem Land für die Betroffenen und oft auch für die Angehörigen.
Imre treffen wir zum ersten Mal an. Mit Anfang 70 liegt und sitzt er nun schon fast sein halbes Leben lang im Bett. Die fast gleichaltrige Nachbarin kommt rüber. Schon viele Jahre umsorgt sie ihn, kauft ein, putzt, wäscht und bringt ihm Essen und Medikamente. Bei schönem Wetter setzt sie ihn auch in den Rollstuhl und bringt ihn damit über die hohen Schwellen in den Hof. „Was soll sonst aus ihm werden?“, fragt sie uns. Imre weiß es zu schätzen und lobt sie mit ihrem Fleiß und der Uneigennützigkeit in den höchsten Tönen, während sie abwehrt. „Ich mach es doch gerne.“, hören wir und beide verfallen in ihren üblichen Ton miteinander, indem sie scherzen und lachen. Inkontinenzmaterialien helfen weiter. Uns bleibt ihnen viel Kraft zu wünschen. Sie verstehen nicht, warum wir von so weit weg her kommen und helfen. Der eigene Staat sollte so etwas tun. Doch alles Politisieren hilft nicht.
Wir klopfen an Alins Blechtor. Der Vater bittet uns herein. Alin ist seit einigen Jahren in einer noch schlechteren Verfassung als Imre. Nach einem Sturz vom Heuwagen ist er vom Hals an vollständig gelähmt und kann nicht einmal seine Finger bewegen. Er versucht zu lächeln, als wir ihn begrüßen. Sein Lächeln freut uns und das teilen wir ihm mit. Oft versinkt er über seinen erbarmungswürdigen Zustand in den Depressionen. Hier sind es die Eltern, die den Mittvierziger von morgens bis abends und auch nachts umsorgen. Einer allein würde das gar nicht schaffen. Ab und an kommt eine Pflegekraft, um den Katheter zu wechseln. Mehr passiert von außen nicht. Immer wieder kämpfen sie mit aufgelegenen Körperstellen. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Wir ringen um Mut machende Worte und spüren unsere eigene Ohnmacht. Es folgen noch weitere Besuche, nicht ganz so aufwühlend.
Am Abend sind wir im Nachbarort Tipari beim Pastor zu einer kleinen Einweihung eingeladen. Die unterschiedlichsten Einweihungsfeiern haben wir in den vergangenen 25 Jahren unseres Engagements in Rumänien miterlebt. Diesmal ist es wieder etwas Neues. Der Pastor fragte vor einem halben Jahr, ob wir für die vielen Veranstaltungen im Pfarrhaus helfen würden, ein WC einzubauen. Um die bestehende ungehobelte, hölzerne Vorrichtung wissend, sagten wir zu. Also feiern wir jetzt die Einweihung der neuen Toilette, die jetzt auch unseren Vorstellungen von einer solchen entspricht. Der Gemeindevorstand trudelt nach und nach am Grill ein. Wir lernen uns kennen und es wird eine lebendige und lustige Veranstaltung. Wir betonen, dass es unsere erste Einladung mit diesem Hintergrund ist. Aber so ist es eben. Wir hören vom abwechslungsreichen Gemeindeleben, aber auch von privaten Befindlichkeiten. Alle fühlen sich im Pfarrhaus zu Hause und sind gewillt, miteinander einen wichtigen Beitrag im Dorf zu leisten.
Nach der Reise erreichte uns aus der Gemeinde die Anfrage, ob wir einer Frau (32), Mutter von zwei Kindern, die Finanzierung von Medikamenten zur Krebsnachbehandlung ermöglichen können. Sie selbst hat dazu schon einen Kredit aufgenommen, der längst ausgeschöpft war. Wir sagen zu. Das war im vergangenen Jahr der zweite solche Fall, der an uns herangetragen wurde. Unter Mitwirkung des Thüringer Pfarrvereins und der Aktion „Hoffnung für Osteuropa“ konnten wir in beiden Fällen die Finanzierung der erforderlichen Medikamente gewährleisten. Solche und ähnliche Schwierigkeiten zeigen uns die Grenzen eines Gesundheitssystems auf, das sich nach wie vor deutlich von uns Gewohntem unterscheidet. Mit großer Dankbarkeit nahmen die Empfänger unsere Hilfe an. Was das im Einzelfall bedeutet, können wir nur ahnen.
Jeden Morgen begrüßen uns Roza, die Küsterin, oder Etelka, eine Frau aus der Gemeinde, mit frisch Zubereitetem zum Frühstück. Es ist immer soviel, dass es den ganzen Tag über reicht. Wir erfahren bei diesen Gelegenheiten die aktuellen Neuigkeiten aus dem Dorf oder ihrem privaten Umfeld. Ebenso ergeht es uns bei den Einkäufen in dem kleinen Dorfladen, dessen Besitzer wir auch schon gut kennen.
Während unseres Aufenthaltes in Bodo steht uns durch den sich erübrigten Arbeitseinsatz in Cladova seit vielen Jahren etwas Zeit zur Verfügung. Nach Jahren des Baus und ständigen Terminen ist das ein ungewohnter Umstand. Wir nutzen die Zeit, um die große Wallfahrtstätte Maria Radna in Lipova und Sibiu (deutsch: Hermannstadt) zu besuchen. Eindrücklich zeigen sich an solchen Orten die Bemühungen des Staates, den Tourismus im Land anzukurbeln. Dennoch sind wir fast überall unter uns.
Selbst in Sibiu, dem bis heute deutschen Zentrum Siebenbürgens, kreuzen auf dem Großen Ring zwischen Brukenthalmuseum, der deutschen Schule und der Evangelischen Kirche nur wenige Passanten unseren Weg. In der Buchhandlung wird noch deutsch gesprochen, im Restaurant daneben nicht. Ein wenig abschalten tut gut. Alexandru, unser Freund aus Hunedoara, begleitet uns schon einige Tage. Das ist sein Urlaub in diesem Jahr. Wir freuen uns immer auf die Zeit mit ihm, auch wegen seines Humors. Seine Meinung da und dort ist uns wichtig, kennen wir uns bereits seit 25 Jahren. Auf der Rückfahrt setzen wir ihn zu Hause ab und sind zum „Kaffee“ eingeladen. Wir haben es geahnt: Neben dem Kaffee bringt seine Frau Hühnerbeine, Gemüse, gefüllte Eier und so manches landestypische Gericht aus der Küche. Wir danken für die Herzlichkeit und Gastfreundschaft und verabschieden uns.
In der Nachbarschaft klingeln wir bei Adriana. Sie war es in den ersten Jahren, die uns mit dem Übersetzen half. So fanden wir den Zugang zu den Menschen und konnten die verschiedenen Projekte starten. Sie freut sich mit ihrer Familie riesig, dass wir uns nach so vielen Jahren wieder einmal treffen können, wenn auch nur für einige Minuten. Doch vor uns liegt die Rückfahrt nach Bodo.
Das Wiedersehen in Racastia, neben der Stadt Hunedoara gelegen, hat viele Erinnerungen in uns geweckt. In Temeswar und in Racastia begann sich vor 25 Jahren unser Focus auf Rumänien zu richten. Besser gesagt, wir lernten Menschen kennen, die in Verhältnissen leben, die eher an Filme erinnern, weit abseits eigenen Erlebens. Gerade die soziale Situation bei Alexandru und seiner Familie war es, die uns damals nicht zur Ruhe kommen ließ. Die einzig zweckdienliche Antwort konnte nur sein, nach unserem Vermögen zu helfen. Dank der großen Unterstützung vieler Menschen aus unserem näheren oder weiteren Umfeld erwuchs daraus eine Hinwendung zu Menschen, die in diesem Land in Nöten steckten, die wir nicht kannten.
Dass alleinige Kleidertransporte nicht die Lebenssituationen der Empfänger änderten, war schnell klar. Das Portfolio unserer Aktionen erstreckt sich bis heute von nachhaltigen Existenzsicherungen, Bildungs- und Berufsförderungen, über medizinische Nothilfe bis hin zu Sozialhilfen und Gemeinschaftsförderungen. Ganz wichtig sind uns dabei verlässliche Partnerinnen und Partner vor Ort. Ohne sie wäre vieles nicht möglich, insbesondere auf Dauer angelegte Aktionen und Projekte. Der christliche Kontext steht im Vordergrund unserer Einsätze, jedoch ohne ihn vor Ort einzufordern. Wir fragen nicht nach konfessioneller, religiöser oder nationaler Herkunft. Aus vielen Gesprächen wird meist deutlich, dass die Menschen selber unsere Motivation erkennen. Sie erleben es, gehört und erhört zu werden, sie finden Hoffnung und für einige ändert sich sehr vieles. Ermutigt wagen sie es, aufeinander zu zugehen.
Nicht nur für uns, sondern auch für einige von ihnen hat sich das persönliche Leben grundlegend gewandelt. Auf den vielen bisherigen Fahrten sind es die Begegnungen mit den Menschen, die uns wichtig sind. Sie teilen mit uns nicht nur die Mahlzeiten und Räumlichkeiten. Gleich einem geöffneten Buch gewähren sie uns Einblicke in ihr Leben, erzählen von Erlebtem und ihren Gefühlen. Ihre Berichte bewegen uns und bringen uns zum Nachdenken – nicht selten nur durch wenige Worte. Wir hören und erfahren, was sie bewegt. Ihre Wertigkeiten unterscheiden sich oft grundlegend von unseren Bedürfnissen und Erwartungen an das Leben. Zu teilen macht reicher, das entspricht nicht unserer Logik. Es dennoch real zu erleben, erfüllt uns mit Dankbarkeit.
Am Abend wartet bei Annamaria, ihren Eltern und Geschwistern ein hervorragender Gulasch auf uns. Wir hören von der Honigernte des Bruders, der vielen Arbeit im Garten, den Corona-Nachwehen des Vaters; dennoch wird viel und oft gelacht. Nach sechs Jahren sind wir in Bodo auch zu Hause. Das Gemeindehaus ist vollständig saniert und dient der Nutzung durch die verschiedenen Gruppen und der Gemeinde. Alin, Imre, Sandor und verschiedene andere Leute im Dorf benötigen weiter Unterstützung, ohne die das Leben schwer zu ertragen wäre. Für solche Fälle verwaltet Annamaria die übergebenen Gelder und rechnet sie entsprechend ab. Wir verabschieden uns – bei der Familie und am nächsten Morgen von Bodo.
Es geht in Richtung Heimat. Doch was heißt Heimat? Wir fühlten uns während der vergangenen Tage überall zu Hause. Ausgerüstet mit vielen und herzlichen Dankesgrüßen sind wir unterwegs, ein wenig wehmütig, die Freunde zurück zu lassen. Dass sie nicht von uns verlassen sind, wissen sie. „Ich weiß gar nicht, wie ich ohne euch denken soll und möchte es auch nicht.“, meinte Annamaria, im Blick auf ihre Gemeinde und die Leute im Dorf. Solche Sätze gehen uns nahe und brennen sich ein. Sie benennen weder Erwartungen noch Forderungen. Sie zeugen von Hoffnung und Vertrauen, von der Freude und der Zuversicht, miteinander auf dem Weg zu sein.
Im Sommer erreichten uns die Bilder vom fließenden Wasser aus Satu Nou und aus Fadimac. Wasser bedeutet Leben, für die beiden Männer in den rumänischen Dörfern und auch für uns. Das verbindet. Diese Reise verbindet ebenso – uns, die wir unterwegs waren und uns mit Ihnen allen, die dazu beigetragen haben, dass Beschriebenes und mehr geschehen konnte. Ihnen allen sei für Ihre Unterstützung, oft über viele Jahre hinweg, und für Ihr Interesse von Herzen gedankt.
Auch im Namen unserer Freunde und Partner grüßt Sie herzlich und wünscht eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit
Albrecht Feige, AK Rumänien